Zum 75. Todestag der Dichterin Gertrud Kolmar

„in alter Anhänglichkeit und gehemmt von Erinnerungen“.

 

Jüdische Spuren in Leben und Werk der Gertrud Kolmar.

Zum 75. Jahrestag ihrer Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz am 2. März 1943

Von Peter Sühring

 

Im Familienroman der Gertrud Kolmar (bürgerlich Chodziesner) spielte die ihr Leben stark prägende Figur des Vaters eine besondere Rolle. Ludwig Chodziesner war einer der erfolgreichsten, angesehensten und spektakulärsten Rechtsanwälte des Kaiserreichs, leistete dem Kaiserhaus juristischen Beistand und hatte eine fatale äußere Ähnlichkeit mit Wilhelm II. Er konnte es nach 1933 gar nicht fassen und glauben, dass die Nationalsozialisten, in denen er eine Clique sah, die die Humanitätsideale des altpreußischen Staates mit Füßen trat, seine Verdienste nicht berücksichtigen würden, um ihm einen unbehelligten Lebensabend und seiner Familie eine gewisse Schonung zuteilwerden zu lassen. Er wehrte sich deswegen gegen die „Emigrationshysterie“ seiner Kinder. Diese waren alle ‑ außer seine Gedichte schreibende Tochter Gertrud ‑ bemüht, außer Landes zu kommen und konnten wiederum des Vaters gefährliche Naivität und Passivität gar nicht fassen, konnten ihn und die Schwester Gertrud aber nicht daran hindern, bis zur Deportation, die in den frühen vierziger Jahren nach dem Emigrationsverbot für Juden immer unausweichlicher wurde, im Lande zu bleiben.

In seiner aus Wahrheit und Dichtung, Recherche und Imagination gemischten Biografie der Kolmar gab Dieter Kühn einige Hinweise und eine atmosphärisch dichte Beschreibung der allmählichen äußeren und inneren Verfinsterung der Lebensverhältnisse von Vater und Tochter Chodziesner: die Enteignung ihrer Villa in Finkenkrug bei Nauen, ihre Einpferchung in eine „Judenwohnung“ in Berlin-Schöneberg und die Deportation des Vaters nach Theresienstadt. In einem fingierten, dem Vater in die Feder gelegten brieflichen Bericht, der als Werkstoff dienen soll für eine von der Tochter Hilde zu schreibende Familienchronik, imaginiert Kühn eine erfundene Szene. Er lässt Ludwig Chodziesner über seinen Vater Julius, Kurzwarenhändler, und seine Mutter Johanna, geb. Aschheim, schreiben: „Der Höhepunkt seines Lebens, der einzige Rausch, den er je gehabt hatte, waren jene Novemberwochen des Jahres 1903, wo der Name seines ältesten Sohnes, sein und Euer Name, in aller Munde, in allen Zeitungen als der erfolgreiche Verteidiger der Gräfin Kwilecki, Isabella geb. Bininska, genannt und gefeiert wurde. Als die Leute in der kleinen Synagoge in der Schulstraße zu Charlottenburg sich um ihn drängten, als jeder ihm gratulieren wollte und die Hand schütteln wollte, da fühlte er: ’Ich habe nicht umsonst viele, viele Jahre einsam gelebt, gearbeitet und gedarbt, ich habe nicht umsonst gelebt’. Und erhobenen Hauptes, frohen Herzens kam er aus der Synagoge nach Haus, in seinen Augen standen Freudentränen, und er erzählte meinem stillen Mütterchen, welches Heil ihm widerfahren. Sie nickte, sie strahlte, aber sie sprach kein Wort. Sie faltete nur ihre ausgearbeiteten, mit dicken Gichtknoten versehenen Hände und betete zu Gott. ’Gelobt sei Schem-boruch-hu!’“

Tatsächlich existiert ein Foto von Julius und Johanna Chodziesner, wie sie während eines Besuches in der Westendvilla, Ahornallee 37, am 28. August 1906 (an Ludwig Chodziesners Geburtstag, der auch zufällig jener Goethes ist) bei der Familie ihres so glänzenden Sohnes auf der Veranda sitzen. Die Tochter Hilde wusste nur so viel: „Auf jeden Fall besteht keinerlei Zweifel darüber, daß die Großeltern [väterlicherseits] wahre und sehr fromme Juden waren und viel weniger liberal und aufgeklärt als die Vorfahren [mütterlicherseits] Hirschfeld und Schönflies.“

Im Hause der Familie Ludwig Chodziesner wurde aber wohl über das Jüdisch-Sein der Familien vater- und mütterlicherseits und über eine eigene Zugehörigkeit zum Judentum, obwohl die Eltern sich nicht hatten christlich taufen lassen, kaum gesprochen. Die 1894 geborene Tochter Gertrud thematisiert diese Entfremdung von der Synagoge und von einem Leben nach den Ritualgesetzen in ihrem Roman Eine jüdische Mutter aus dem Jahr 1931. Als die Hauptfigur Martha Wolg nach dem Verlust ihrer Tochter Ursa trostsuchend eine Synagoge aufsucht, endet das enttäuschend: „Es war auch im Tempel kühl gewesen, kühl und recht leer. Die wenigen Weiblein auf kahlen Bänken vereinsamt im Halbkreis droben, ein paar alte Männer drunten. Und der Prediger sprach nicht deutsch; war es deshalb, daß sie ihn schlecht verstand und kaum folgen mochte? Ihr bisschen Hebräisch war längst doch verschüttet. Glasperlen in einem löchrigen Säckchen, das sie als Kind besaß. Aber dies Reden auch floß ihr fort, unaufhaltsam, schläfernd wie Körnergerinnsel, entschlüpfte zwischen den Fingern. Sie ertappte beschämt sich selbst dabei, wie sie im wenig geschmückten Raume ein Schnörkelstück, einen Zierrat suchte, ihren Blick darauf hinzuhängen. Sie verließ das Gotteshaus mit dem Empfinden: Unschwer erfüllte Pflicht. Hatte sie, da sie eintrat, dies Ziel nur, die Absicht gehabt? Seit Ursas Tode war sie nun schon mehrmals im Tempel gewesen, stets unklar hoffend, der Klage Trost, ihren Fragen Antwort zu finden, und schied doch immer etwas enttäuscht, nüchtern, mit leeren Händen. Sie schwor sich: ’Es ist nichts. Es gibt mir nichts. Ich geh nicht mehr hin.’, und kam dann wieder, unwillig fast, wie unter gewissem Zwange, wie einer den Freund seiner Jugend besucht, den ihm Jahre zuinnerst entfremdet. Er müht sich vergebens, die Züge zu schaun, die er einst an ihm liebte, das Band zu erkennen, das sie geeint; er findet nichts, es ist alles fort, und dennoch, in alter Anhänglichkeit und gehemmt von Erinnerungen, gewinnt er den Mut, die Härte nicht, des andern Tür hinter sich zuzutun und niemals wiederzukehren. So war das.“

Erst die Nationalsozialisten erzwangen eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum. Und sie nahm bei Gertrud Kolmar empathische, aber destruktive, selbstzerstörerische Züge an. Mit dem Jahr 1933 begann bei ihr eine erneute Hinwendung zur Französischen Revolution, speziell zur Figur des fanatischen Jakobiners Robespierre, dann schrieb sie Klagegedichte über die Verfolgung der verstummten roten Kämpfer in den NS-Gefängnissen, denen sie mit ihren Gedichten eine (innere) Stimme verleihen wollte. Und sie flüchtete sich in andere, nicht nur mythisch, sondern orientalisch, asiatisch anmutende, an den Hölderlin’schen Kaukasus gemahnende, imaginierte „Welten“, in denen sie eine andere Heimat und vielleicht auch eine andere Mutter und einen anderen Vater fand.

Kolmars Schwester Hilde Wenzel und ihre Freundin Hilde Benjamin haben beide getrennt voneinander unterschiedliche Gedichte und Prosa der Kolmar gesammelt, versteckt, gerettet und überliefert. Viele Manuskripte und Abschriften, die ihre Schwester sammelte, erreichten diese über den Umweg ihres in Berlin verbliebenen Mannes, des Buchhändlers Peter Wenzel. Alle drei waren mit einer poetischen Hellsicht von der Qualität dieser Gedichte, für deren Überlieferung sie einiges aufs Spiel setzten, überzeugt.

Gertrud Kolmars empathische Neigung, sich mit den Opfern zu identifizieren, die sich auch schon in dem Gedichtzyklus Das Wort der Stummen niedergeschlagen hatte, wurde nun gegenüber den verfolgten Juden, aus einem schwer erfindlichen Schuldbewusstsein heraus, immer mehr zur treibenden Kraft nicht nur für ihre Dichtung, sondern auch für ihre reale Lebensführung. Die Juden – sie wurden immer mehr zu „ihrem Volk“, dessen Schicksal sie sich in seinen tiefsten Erniedrigungen bis hin zur Vernichtung ergeben wollte, sogar aus einem schwer verständlichen inneren Zwang heraus ergeben musste, als hätte sie damit einen früheren Verrat zu sühnen. Hier versagen alle rationalen Erklärungsversuche. Sie wurde zur Zwangsarbeit in einer Kartonage-Fabrik eingezogen, sie bejahte diese harte Arbeit als eine Art kathartische Selbstkasteiung und war stolz darauf, sie besser als manche Männer zu ertragen, schlug alle Warnungen und rettenden Angebote in den Wind, ließ sich am 27. Februar 1943 bei der so genannten Fabrik-Aktion, bei der die letzten jüdischen Zwangsarbeiter(innen) im Innern des Reiches verhaftet und direkt in die Vernichtungslager deportiert wurden, abführen. Sie ging letztlich, so könnte man ihr Verhalten deuten, willentlich und sehenden Auges in den Tod, als fühlte sie sich dazu vorherbestimmt. Im „32. Osttransport“, dritter Großtransport direkt von Berlin nach Auschwitz, zusammen mit etwa 1500 Frauen, Männern und Kindern wurde sie in einem gedeckten Güterwagen am 2. März vom Güterbahnhof Moabit abtransportiert. Der 3. März gilt als ihr Todesdatum.