Antisemitismus – wider das Erlösungssyndrom

Bemerkungen zu den Ursachen einer neudeutschen Judenfeindschaft von links

 

Von Peter Sühring

 

 

Im Folgenden wird ein Problem meiner Generation erörtert: Wie kann man die wie zwanghaft beschworene „deutsch-jüdische Symbiose“ und die auf sie folgende zwanghafte Antibiose, wie das Weiterleben der Nazi-Ideologie, diesem Kulminationspunkt einer traditionsreichen Deutschen Ideologie, in der Nachkriegsgeneration, bis hinein in deren linke Wende um die Mitte der 60er Jahre und die nochmalige rechte Kehrtwendung von Teilen dieser Generation seit Mitte der 90er Jahre im wiedervereinigten Deutschland, kulturgeschichtlich verstehen? Es geht dabei auch um eine Auseinandersetzung mit Anna Jokls metapsychologischen Schlussfolgerungen aus ihren psychoanalytischen Kuren mit Jehuda und Volker in ihrer Berliner Praxis in den 50er Jahren, die sie in ihrem Bericht „Zwei Fälle zum Thema: Bewältigung der Vergangenheit“ veröffentlichte (zunächst hebräisch 1965, dann 1988 auf Deutsch im 81. Bulletin des Leo-Beack-Instituts und 1997 in Frankfurt/Main als Buch).

Die dort erzählten lebensbedrohenden psychotischen Konflikte mit todesbilderreichen Inhalten können nicht überraschen, jedenfalls nicht jene, denen die bewussten Dimensionen der Barbarei geläufig sind, die als nachgeborene Deutsche sich im Wachhalten der Schmerzen, die Deutsche andern zufügten, versucht und geübt haben. Selbst die Qualen Volkers, des Deutschen, aus der von den Nazi-Vätern gezeugten Generation, der noch während des Dritten Reiches nazistisch-elitär erzogen wurde und dessen leerlaufender Vernichtungswahn in Selbstzerstörung umschlägt, sind nur dem ersten Anschein nach weniger vorstellbar oder überraschend. Auch viele Deutsche der Nachkriegsgeneration waren anfällig für ähnliche seelische Verwüstungen. Auch jenseits der Schuldfrage kann der Schmerz anderer Völker schmerzen, für den man historisch, durchaus nationalgeschichtlich, zuständig und verantwortlich ist. Auch dieser sekundäre Schmerz will, soll und kann ertragen sein. Wenn in den verdrängungsbereiten, relativ erfolgreichen, vor dem Ausbruch der selbstzerstörerischen Psychosen in gewisser Weise „glatten Typen“ wie Jehuda und Volker sich nach der Wiederkehr des Verdrängten derartige Abgründe auftun – warum sollten dann jene, die verarbeitungsbereit unaufhörlich angefochten, zweifelnd und traurig sind und sich von der schmerzlichen „Dauerpräsentation der Schande“ nicht abwenden wollen*, nicht auch daran zerbrechen können; warum sollten sie zwar gefährdet aber zugleich auch gerettet sein? Sie befinden sich in einem Zustand der Ernüchterung und des Unvermögens, die Nüchternheit als ständige Haltung zu bewahren, ähnlich den Wunschdenkern einer neuen Welt, die Alexis de Tocqueville in der Einleitung zu seiner Schrift „Die Demokratie in Amerika“ im Blick hat: „Eine durchaus neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft. Aber daran denken wir kaum: mitten in einem reißenden Strom treibend, heftet sich unser Blick hartnäckig an ein paar Trümmerreste, die man am Ufer noch sieht, während die Strömung uns mit sich führt und uns rücklings dem Abgrund zuträgt“. Dieses Bild erinnert unmittelbar die berühmte geschichtsphilosophische Phantasie Walter Benjamins angesichts einer Zeichnung Paul Klees mit dem Titel „Angelus novus“, obwohl mit ihr nach den zeitgeschichtlichen und biographischen Umständen des Malers in den frühen zwanziger Jahren in München wohl eher eine satirische Karikatur Adolf Hitlers beabsichtigt war.

Ganz unsentimental und vielleicht etwas leichtfertig hatte ein aufklärerisch aktiver, säkularer Jude in der DDR, Rudolf Schottlaender, den Gesichtspunkt der nachträglichen Mitverantwortung der Nachgeborenen zurückweisen wollen als er schrieb, daß „die Jüngeren, die damals noch Kinder oder noch nicht geboren waren, nicht nur frei von Mitschuld, sondern auch frei von Mitverantwortung sind“ und daß die Verantwortung ganz auf den juristischen Aspekt der finanziellen Wiedergutmachung zu beschränken sei (siehe seinen Aufsatz „Deutschtum und antisemitische Barbarei“, in: Synopsis, Würzburg 1988). Er weist zwar auf „eine nicht hinzunehmende Begriffsverwirrung“ hin, die „sich aus dem undifferenzierten Gebrauch des Wortes ‚Antisemitismus’ für jede Art von Feindschaft gegen Juden“ ergebe, denn es könne „ein Judenfeind auch einer sein, der durchaus kein Antisemit im rassistischen Sinne“ sei, aber er zog damals daraus den Schluss, „in der Bundesrepublik werden Menschen, besonders die jüngeren, überlastet mit einer ihnen ungerecht aufgebürdeten Verantwortung für die Schuld der Eltern und Großeltern. In der DDR wird die Bevölkerung systematisch entlastet von der Pflicht zu gerechter Einschätzung der Leistungen des jüdischen Volkes in Israel“. In Wirklichkeit war und ist die immer noch akute Tatsache zu beobachten, daß mit dem militärischen Sieg über den  rassistischen Antisemitismus der Nazis das Wieder- und Neuaufkommen judenfeindlicher Vorurteile in Deutschland, zumal heute angesichts starker muslimischer Einwanderung, noch lange nicht gebannt ist. Wie weit die ideengeschichtlichen und kulturellen Wurzeln der Judenfeindschaft in Deutschland zurückgehen und wie weit sie in Gegenwart und Zukunft virulent bleiben, soll hier aufgezeigt werden.

Jokls weitreichende Bemerkungen über die deutsch-jüdische Symbiose betreffen die in der bestialischen und kaltblütigen Vernichtung von Juden durch Deutsche sich manifestierende, von Heinrich Heine in seinem Shylock-Kommentar bereits ausfindig gemachte „Ähnlichkeit“ oder negative Anziehung oder sich bespiegelnde Zerrbildhaftigkeit, speziell dieser beiden traurigen Völker, des jüdischen und des deutschen. Aus katastrophisch entwickelten sozialpsychologischen Geschichtszusammenhängen heraus vollzog sich in Deutschland eine Adaptation des jüdischen Erlösungsgedankens, die ihn pervertierte und in sein Gegenteil verkehrte. Albert Camus formulierte in seiner Essaysammlung „L’homme revolté“ noch relativ neutral: „Jüdisch ist (im Christentum) der Begriff der Geschichtlichkeit, er findet sich in der deutschen Ideologie wieder“. Das geschichtsteleologisch konstruierte jüdische Heilsversprechen, christlich verbogen in eine Heilsgewissheit, wurde vom deutschen Nationalsozialismus neuheidnisch profaniert oder biologisch-materialistisch so umgeformt, ausgesprochen und vollstreckt, dass die angeblich bedrohte arische Rasse im entscheidenden Sieg über das Böse ihre idealistisch propagierte Rettung erfährt. Zu diesem Zweck trat ein muffiger, ebenso kleingeistiger wie größenwahnsinniger, ebenso gerissener wie blindwütiger Hanswurst auf die Bühne der deutschen Geschichte und konnte sich erfolgreich für die Mehrheit der Deutschen (inklusive des Bildungsbürgertums) als Faszinosum, als von Gott gesandter Führer inszenieren. Unabhängig von der Frage, ob Hitler wirklich Christ war oder Carl Schmitt wirklich Antisemit, kam diese Konstellation sehr gut zum Vorschein, als Schmitt während seines Schlussworts auf der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NS-Rechtswahrerbundes am 3. Oktober 1936 erklärte: „‘Indem ich mich des Juden erwehre’, sagt unser Führer Adolf Hitler, ‘kämpfe ich für das Werk des Herrn’“.

Zu den historisch vermittelten „catastrophes teutoniques“ zählt vor allem die Tatsache, daß die deutsche Nation über Jahrhunderte hinweg unfähig war, die ihr geopolitisch zuwachsende Rolle eines Mittlers und Mischers zwischen Nord und Süd, wie Ost und West in Europa anzunehmen und kulturell auszufüllen. Stattdessen fühlten sich die Deutschen so, wie es die Juden als überall unbeliebtes Wandervolk nun wirklich waren: von bösartigen Feinden umzingelt, von argwöhnischen Nachbarn bedroht. Noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts tönte Heidegger in Vorlesungen, die sich „Einführung in die Metaphysik“ nennen: „Wir sitzen in der Zange zwischen Rußland und Amerika!“ Fast immer taten sie so, als müssten sie ihre eigene Kultur behaupten oder in bedrängtem Raum förmlich aus dem Heimatboden stampfen. Daher dieses hysterische secundum non datur als Inbegriff nicht etwa einer angeblichen Disziplin, die es in Deutschland kaum gibt (denn sie wäre ja eine soziale Form, mit Andersartigem, hölderlinisch ausgedrückt harmonisch-entgegengesetzt leben zu können), sondern als Inbegriff gerade deutscher Willkür und Disziplinlosigkeit.

Unmöglich könnte man aus der Überlieferung deutscher Volksbücher, Sagen, Märchen und Volkslieder eine Kultur rein deutschen Ursprungs destillieren. Warum und wie käme sonst das Schlusslied aus der Pessach-Hagada als Kinderlied in „Des Knaben Wunderhorn“? Umso mehr aber geht aus jenen rätselhaften Überlieferungen hervor, dass sie aus mehreren, zum Teil getrübten Quellen (auch jüdischen und antijüdischen) gespeist, mit vielen Wassern (auch jüdischen und antijüdischen) gewaschen, mit vielfältigen Linien (auch jüdischen und antijüdischen) gekreuzt wurden. Auffällig müsste auch sein, wie die gesamte romantische Geschichtsschreibung der deutschen Kultur und Poesie eines Eichendorff, eines Uhland etc. stets zu einer gesamteuropäischen des Mittelalters sich auswächst. Aber in Wagners Opern werden die Stoffe einer christianisierten mitteleuropäischen Mischkultur krampfhaft germanisiert, im Parsifal wird die Zwangsarisierung eines zeitlosen Christus überdeutlich: Gralsmystik als pervertierter Erlösungszauber.

Bezeichnend ist auch, daß nur dem so prototypisch deutsch-jüdisch-symbiotischen Denker Walter Benjamin bereits in seiner Doktorarbeit 1919 auffiel, dass die Naherwartung des Reiches Gottes, daß der Glaube an einen vernunftbedingten unmittelbaren Anbruch messianischer Zeiten ein konstitutives Element deutscher Romantik und des Deutschen Idealismus war. Auffällig und seltsam auch, dass der deutsch-jüdisch-symbiotische Denker Franz Rosenzweig, Verfasser eines „Sterns der Erlösung“, in seiner Kritik des deutschen Idealismus behauptete, dieser führe, seiner spekulativen, apodiktischen Abstraktionen wegen, zu einer geistigen und schließlich körperlichen Lähmung, zu einem „kranken Menschenverstand“ – um dann mit seinem „Neuen Denken“, seiner lebensphilosophischen, realitätsgläubigen „Überwindung“ des deutschen Idealismus selbst ebensolcher Lähmung real zu erliegen. Seine geistige und körperliche Lähmung – war sie nun Echo des Überwundenen, Folge des Überwindungskampfes oder Ausdruck des von ihm konstruierten „neuen“ Erlösungsweges?

Wenn überhaupt irgendjemand, dann wäre Hölderlin die in Deutschland am weitesten gediehene Figur des Mischers. Selber eine Mischung aus südlicher Kosmologie des Empedokles, jüdisch-maranischem Ketzertum des Spinoza, über sich selbst aufgeklärter westlicher Aufklärung des Rousseau, nördlicher Individuationsaporie des dänischen Prinzen Hamlet oder seiner Neuauflage in Gestalt des Peer Gynt und östlicher Mystik „vom Kaukasos her“. Heidegger hingegen, auch mal wieder als ein europäischer Philosoph des 21. Jahrhunderts tituliert, wohl eher einer der Vertreter einer typisch deutschen Geisteskrankheit des 20., wäre das direkte Gegenbild zu Hölderlin, selbst da noch, sogar dort am entschiedensten, wo er Hölderlin in den Schlund einer schwäbischen Geistesmutter, an der die Welt genesen soll, herunter zu zerren sucht.

Bei religiösen Juden jedweder couleur heißt der Erlösungsgedanke: daß es eines Tages gelingen könnte, über die Starken dieser Welt zu triumphieren, um eine Neue Welt zu errichten, um die Zukunft von den Übeln der Vergangenheit zu befreien. Diese Vision ist hier absichtlich falsch, nämlich profan formuliert, um den folgenreichen Irrtum außerhalb der jüdischen Religionssphäre zu demonstrieren, nämlich daß die Wiederaufrichtung des Paradieses Menschenwerk sein könne. In Wirklichkeit resultiert der Glaube an sie aus althebräischer Schöpfungsmythologie plus biblischer Prophetie plus rabbinischem Messianismus mit allen nicht-normativen, nicht-eschatologischen, negativen bis nihilistischen, agnostischen Methoden und exegetischen Schattierungen der jüdischen Überlieferung in ihrem Umfeld. Bei Deutschen einer ganz bestimmten couleur heißt Erlösung: über die Schwachen dieser Welt zu triumphieren, um eine veraltete Welt zu verewigen, um die Gegenwart von den Übeln der Zukunft zu befreien. Nicht nur Weltgericht, auch Weltbeglückung meint das eschaton der jüdischen Geschichte als Ziel eines auserwählten Volks, das exemplarisch erfährt, was der erträumte Wille Gottes auf Erden bewirken könnte. Das dem „Herrenmenschen“ innewohnende deutsche Wesen, an dem die Welt genesen solle, kann man als die Herrschaft des Brutalsten nur mit Abscheu von sich weisen.

Auch wer wohlwollend-philojüdisch von der deutsch-jüdischen Symbiose redet, kann damit doch nur jene erzwungene Symbiose meinen, nämlich die Assimilation und schließliche Verschmelzung bedrängter Juden mit der Kultur ihres „Wirtvolks“ unter Hintantstellung und schließlicher Preisgabe ihrer Herkunft. Hätte sich je ein Deutscher zugetraut oder zugemutet, sich an die Kultur des jüdischen „Gastvolks“ zu assimilieren und sich mit ihr zu verschmelzen und darunter die deutsch-jüdische Symbiose verstanden wissen wollen? Auch in ihrer positivsten Auslegung, etwa als ein emanzipatorischer Schritt säkularisierter Juden in eine fremde, aber aufgeklärte Kultur, als Befreiung vom eigenen repressiven religiösen Milieu, ist diese deutsch-jüdische Symbiose eine ziemlich einseitige Sache gewesen und war als die von Heine beschriebene Wahlverwandtschaft und geistige Anziehungskraft seitens der Deutschen sozial nie sanktioniert worden.

Es gibt eine andere deutsch-jüdische Symbiose, die man unterschwellig, mysteriös, rätselhaft nennen mag, jedenfalls nur schwerlich durch eine empirische Geschichtserzählung aufgehellt werden könnte, die wirklich allein diese beiden Völker auch über den nationalsozialistischen Judenmord hinaus auf problembeladene Weise aneinander bindet. Diese Symbiose konstituiert sich über den vom Christentum adaptierten, fälschlich und unrechtmäßig ererbten Erlösungsgedanken.

Innerhalb dieser verqueren Symbiose passiert die Umwandlung des Überbringers der Erlösungsbotschaft in das vernichtungswürdige Böse selber, von dem es sich zu erlösen gelte, um tausendjähriges Glück zu erlangen. Bezeichnend für diesen Vorgang sind die frühen michaelisch auftrumpfenden Tagebücher von Joseph Goebbels, dieses akademisch Gebildeten unter den nationalsozialistischen Verbrechern. Ein erlösungsbedürftiger, -süchtiger, -wütiger Deutscher konnte die Juden nur vertilgen wollen als sein Unglück, welches sich anmaße, der Welt lehren zu wollen, worin Erlösung bestünde. Hier sind wir nun bei der lingua tertiae imperii angelangt. Den zerlumpten Ostjuden, der auf Jiddisch, einem mittelalterlichen deutschen Dialekt, von Erlösung singt, kann der neuhochdeutsche „Herrenmensch“ mit der für ihn erlösungsmächtigen Vernichtungsmaschinerie nur zertreten wollen. Die aus dem religiösen Sprachgebrauch stammende, angloamerikanisch-euphemistische Bezeichnung „Holocaust“ für den nazistischen Völkermord an den Juden könnte eigentlich eine Erfindung der Nazis sein, um diesen Völkermord euphemistisch als von ihnen in höherem Auftrag zu vollstreckende Flammenstrafe, holocaustas heißt es in der Vulgata, zu rechtfertigen. Er wurde inszeniert als kultische Handlung einer siegreichen, aber nicht minder wahnsinnigen, geisteskranken Erlösungsexekutive und -exekution.

Das pädagogische Klima, in dem wir als Nachkriegsgeneration groß wurden, war auch nach 1945 noch anhaltend nationalsozialistisch geprägt, gepaart mit lebensgewöhnlichem Aufbaueifer und -stolz. Der Aufbaueifer vergaß den Abbau der Chemiefabriken, die das Gas nach Auschwitz lieferten. Das war eine nochmalige historische Verfehlung unserer Elterngeneration, während wir als ihre Kinder in die Allgegenwart einer unaufgearbeiteten Vergangenheit hineinwuchsen. Der Gaskrieg gegen das unbewaffnete und über ganz Europa zerstreute Volk der Juden drang deswegen nicht ins öffentliche Bewusstsein als das, was er war, nämlich Völkermord und Kriegsverbrechen im Rahmen des Zweiten Weltkriegs. Dass nach der staats- und völkerrechtlichen Doktrin der Nazis und ihres in diesen Fragen eine Zeitlang obersten Juristen Carl Schmitt, einem nicht-nationalstaatlich verfassten Volk, wie dem der Juden, ein Krieg erst gar nicht erklärt werden brauchte, sondern dass man es als „Schädling“ in der europäischen Großraumordnung ausrotten durfte – auch dies wurde von den Eltern nachträglich durch ihr Schweigen sanktioniert.

Gefährdete nachgeborene Deutsche sind wir geblieben. Die entnazifizierende Wirkung der importierten reeducation fiel etwas dürftig aus und blieb unterwanderbar. Kaum (und wenn, dann zu schwach) wurde auf humanistische, demokratische, aufklärerische, tolerante Traditionen deutscher Herkunft und Ausprägung, beispielsweise des Vormärz, zurückgegriffen. Die Siegermächte der Anti-Hitler-Koalition hegten gegen unabhängige deutsche Demokraten ein seltsames Misstrauen. Die Franzosen belegten Alfred Döblin mit Schreibverbot, eine Zeitschrift wie „Der Ruf“ hatte in der amerikanischen Zone Lizenzschwierigkeiten. Diesem Misstrauen komplementär verhielt sich ein seltsames Zutrauen zu dienernden opportunistischen Überläufern aus den Reihen der Ex-Nazis. Interessant wäre, zu erfahren, gegen wen und warum in der Schlussphase der Nürnberger Prozesse beim Übergang zum Kalten Krieg des neuen Ost-West-Konflikts das Verfahren eingestellt wurde – wegen sogenannter „Geringfügigkeit“ der Verbrechen.

Gefährdet sind wir geblieben. Der linke Protest um 1968 herum blieb erstaunlich unhistorisch, verkrampfte sich selbstgerecht, autoritär bis totalitär und erlösungsgewiss, schleppte viel absolutistische Haltung aus der Kultursphäre mit, gegen die er zu protestieren meinte. Man denke nur an die Genickschuss-Phantasien der RAF, den Marmorklippenjargon ihrer Verlautbarungen und den für beide Seiten verräterischen Schutz, den die RAF bei den Staatssicherheits-Organen des SED-Staates suchte und fand.

Auch die, die nicht mehr in NS-Internaten groß wurden, waren beschädigt durch halbnazistische Redensarten, Gewohnheiten, Lebensstile und Anforderungen vonseiten der Eltern und Lehrer. Diese Infiltrationen waren begleitet von einer massiven, sich selbst und uns betrügenden Strategie der Elterngeneration, mit der sie ihre willige Vollstreckung oder Duldung von Verbrechen verschweigen, wenn nicht gar leugnen, beschönigen oder rechtfertigen wollte. Weniger moralisierend könnte man dies auch psycho-technisch als die seelenhaushälterische Strategie der Abspaltung des Bedrängenden, seiner Verdrängung ins Nachbewusste bezeichnen.

Eine „linke“ Überwindung dieses Schlamassels ohne bedrohliche Wiederkehr des Verdrängten wäre erfolgreich nur möglich gewesen als Gratwanderung oder ein Balanceakt, der zugleich im Widerspruch gegen parteikommunistische Verwüstungen der Seele sich hätte bewegen müssen. Deren „Verlockungen“ aber konnten viele gerade wegen der angebotenen Heilung vom deutschen Selbsthass nicht widerstehen. Nur in einem Staatswesen wie dem der DDR konnte nach dem zweiten Weltkrieg die deutsche Spießerideologie von Zucht und Ordnung, von Gemeinschaftsgeist und Ausgrenzung Andersdenkender (derer auch, die sich nicht mitfreuen konnten und sich weinend aus der Mitte der Jubelnden stahlen) so wirkungsvoll überdauern.** Keine der linksextremen Organisationen Westdeutschlands, die aus der Studentenrevolte hervorgegangen waren, hatte je den ostdeutschen Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze als das bezeichnet und verurteilt, was er war: ein von Staats wegen organisiertes Verbrechen. Das Entlastende bestand darin, dass man das Schandbare, den politischen Mord an schuldlosen Menschen nun wieder (wie die Eltern) als für einen guten Zweck oder eine historische Mission notwendig erachten und gut heißen konnte, ging es doch um die Rechtfertigung eines „antifaschistischen Schutzwalls“. Oder man flüchtete (wie die Eltern) in ein vielsagendes Verschweigen dieser Gewalttaten.

In diese Zeit und dieses Klima fällt auch die Begeisterung der west- und ostdeutschen Linken jedweder couleur für die Strategie der PLO. Diese Situation hat Jean Bollack in einer treffenden Charakterisierung der verzweifelten Stellung des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi im Berlin der ausgehenden 60er Jahre beschrieben: „Ich denke, dass Szondi auf der Seite der Linken (bei den ‚Antifaschisten‘) den Nachhall einer älteren Gewalt wiedererkannte, die unzureichend benannt wurde (weniger als heute), und dass er sich mit den Positionen auseinandersetze, die er zwanzig Jahre zuvor eingenommen hatte. Der Antisemitismus ’von links’ hatte ihm mittlerweile die Augen geöffnet. Was sich während des Zweiten Weltkriegs ereignet hat, ist etwas sehr Unterschiedliches, das nicht mit diesem Wort [Antisemitismus] bezeichnet werden kann, welches auch immer die Rolle des Judenhasses in der Geschichte Deutschlands gewesen sein mag. Der Antisemitismus von rechts war nach dem Krieg von Gewicht, im Klima der Restauration und der Entnazifizierung“ (Jean Bollack, Sinn wider Sinn, Göttingen 2003, S. 166/67). Es wäre demnach in Wirklichkeit zu unterscheiden zwischen: 1. einer kulturellen, meist religiös fundierten Judenfeindschaft der Christen und Muslime, einem rassistischen Antisemitismus, (der übrigens älter ist als die nazistische Ideologie [siehe Moshe Zimmermann, Wilhelm Marr, The Patriarch of Antisemitism, New York 1986], die den ursprünglich auch gegen die Araber als Semiten gerichteten Antisemitismus auf eine gegen Juden gerichtete eliminatorische Strategie reduzierte), der auf der rechtsextremistischen Seite des politischen Spektrums der alten Bundesrepublik und heute ganz Deutschlands überlebt hat, 2. der Vernichtungsstrategie der nazistischen Machthaber, sowie 3. einer erneut aufgekommenen Judenfeindschaft auf Seiten der organisierten extremen Linken. Ob die neueste Spielart einer gegen islamische Einwanderung gerichteten, sich selber christlich-jüdisch gerierenden Xenophobie neonationalistischer Kreise ihrem inneren Wesen nach nicht auch antisemitisch zu nennen ist, wäre zu prüfen. Zudem gibt es eine pervers anmutende rechtsradikale Strömung in Deutschland, die den arabischen Islam zum gefährlichsten Feind erklärt und dabei auf den vorbildhaften Widerstand des jüdischen Staates wie auf ein Bollwerk zu bauen gewillt ist.

Daß auch die Nachgeborenen dem massenneurotischen Zusammenhang, den der Nationalsozialismus produzierte, nicht gnädig enthoben sind, weder durch eine späte***, noch durch eine westliche oder östliche Geburt, muss im heutigen Deutschland betont werden, in dem, über 25 Jahren nach der Beendigung der Teilung, Verharmlosungen und Relativierungen der Naziverbrechen zwar nicht Oberhand zu gewinnen drohen, aber die kollektive Lust daran zunimmt und die Widerständigkeit einzelner renommierter Intellektueller, dagegen zu halten, abnimmt. Einige ehemalig linke oder sich immer noch als Linke verstehende Autoren meinten, sich ausgerechnet als Gastautoren des rechten Intelligenzblatts „Jungen Freiheit“ gegen angeblich ungerechtfertigte Vorwürfe, sie seien „Antisemiten“, verwahren zu müssen. Zu der gegenwärtigen politischen Schieflage gehört auch die Tatsache, dass eine durchaus gebotene Kritik am israelischen Araberhass, am militaristischen Vorgehen der rechtsradikalen israelischen Regierung in den Palästinensergebieten, an ihrer de facto Ein-Staat-Politik, d.h. an der bereits vollzogenen Annexion des Westjordanlands einhergeht mit einer aus historischen und politischen Gründen sich verbietenden Rechtfertigung des Terrors einiger Palästinensergruppen, der zu legitimen Widerstandshandlungen umgedeutet wird. Der palästinensische Terror würde, wie programmatisch erklärt worden ist, wenn er als Widerstand gegen die Besatzung (die immer mehr zu einer faktischen, uneingestandenen Annexion geworden ist) erfolgreich geworden wäre, d.h. die Gründung eines Palästinenserstaates auf der Basis eines Friedensvertrags vollzogen werden könnte, nicht etwa aufhören, sondern erst, wenn der Staat Israel zerstört wäre. Eine Beschönigung und eine sich moralisch als „antiimperialistisch“ aufwerfende Verteidigung dieses palästinensischen Terrors (inkl. stillschweigender Duldung der Tötung von in Israel wohnenden Überlebenden des nazistischen Judenmords und deren Familienangehörigen) haben ihre emotionale Wurzel in den Traditionen einer noch nicht überwundenen Judenfeindschaft von links und gehen in ihren Resultaten auffällig mit denen des rassistischen Antisemitismus von rechts konform.

 

*Abwenden von der „Dauerpräsentation unserer Schande“ empfahl der deutsche Schriftsteller Martin Walser in seiner Dankesrede für den Friedesnpreis des deutschen Buchhandels 1998. Mittlerweile hat sich Walser von dieser Rede distanziert.

**Anspielung auf die zu bedeutenden staatlichen Anlässen gern gespielte „Ode an die Freude“ von Beethoven (im Finalsatz der 9. Sinfonie) auf  Verse von Friedrich Schiller.

***Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl sprach von der „Gnade der späten Geburt“: Als Deutscher zu jung gewesen zu sein, um in der Wehrmacht, der SS oder auch nur als Buchhalter sich am industrialisierten Massenmord an den europäischen Juden mitschuldig gemacht zu haben.

Peter Sühring, Jahrgang 1946, ist Musik- und Literaturwissenschaftler. Er promovierte 2006 über Mozarts Kindheitsopern. Für Brouillon schrieb er zuletzt über die Dichterin Getrud Kolmar: Gertrud Kolmar: Personenkonstellationen