Die Liebe in der Schwebe gelassen

„Love Life“: Musical-Vaudeville von Weill/ Lerner in deutscher Erstaufführung (1)

Von Thomas Ziegner

Schwierig, ein siebzig Jahre lang so gut wie verschollenes Stück Musiktheater wiederzubeleben? Dem Freiburger Theater ist er gelungen, der Drahtseilakt „zwischen Respekt vor dem Original und der notwendigen zeitgenössischen Annäherung” (Chefdramaturg und Übersetzer Rüdiger Bering). Dass die Liebe selbst, als Gefühl, Ideal und in praxi historischen Wandlungen unterliegt, hatte Weill schon in „A Touch of Venus“ beschäftigt. Fassungslos erlebt da die Göttin, wieweit die fleischliche Sinnesfreude in der modernen Gesellschaft kupiert worden ist, jedenfalls nach antiken Maßstäben beispielsweise des Petronius.

Love Life, Libretto von Alan Jay Lerner – dem später mit „My Fair Lady ein Welterfolg gelang – ist eine Nummernrevue mit lockerer Rahmenhandlung, die einen Zeitraum von rund 150 Jahren umspannt. Relativ gemächliches, ruhiges (Ehe)-Leben um 1791, zunehmende Beschleunigung, zunehmender Stress bis hin zum industriellen Mahlwerk der modernen Zeiten, in Freiburg trefflich illustriert mit Filmeinblendugen aus Chaplins „Modern Times“ (exzellent: das Videoteam „Projekt 2“). Idealtypisches Eheleben der US-amerikanischen Mittelklasse von 1791 bis 1948 wird musikalisch-szenisch beleuchtet, und Vaudeville-Nummern mit wechselnden Chorformationen und einer Fülle musikalischer Stilformen skizzieren gesellschaftlich-kulturelle Hintergründe. Das Vorurteil, Weill habe sich in den USA an die Kulturindustrie verkauft, wird durch die Freiburger Inszenierung wieder einmal gründlich widerlegt. In der Neuen Musikzeitung (nmz) gibt Andreas Hauff zu bedenken: „Dabei enthält die „Dreigroschenoper“ bei genauem Hinsehen deutlich mehr Unterhaltung, als man denkt, und „Love Life“ mehr bissige Gesellschaftskritik als erwartet.“ Andreas Hauff über Love Life

Schwebend, prekär

Tim Al-Windawe
Rebecca Jo Loeb
Copyright Birgit Hupfeld, Theater Freiburg

Sie haben keinen festen Boden unter den Füßen, die ehelich Liebenden Susan und Sam Cooper: Auf in der Luft schwebenden Stühlen klagt er: „Ich hänge in der Luft“, und sie: „Ich bin zweigeteilt, zerrissen.“ So bildhaft kräftig, heiter dabei, bereitet Regisseur Joan Anton Rechi auf die kommenden Erlebnisse des Paares vor.

Schwungvoll preist ein Männer-Oktett den Fortschritt, während es simultan von den „Modern Times“ Videoclips dementiert wird. Frech-charmant, gar nicht blaustrümpfig treten die Chordamen auf, Anfänge der der Frauenbewegung ums Jahr 1900 beschwörend. Weg mit dem Einschnürmieder! Weill widmete ihnen den „Women Club Blues“. Und wer immer noch behauptet, in Amerika habe Weill seine kompositorische Meisterschaft verleugnen müssen, höre sich das satirische Madrigal „Ho Billy, O, die Frühlingslüfte wehen“ an. Hier wie an vielen anderen Stellen bewährt sich die stilistisch brillante, witzige Übersetzung von Bering. Das frühlingsbewegte Madrigal samt Falala-Schleifchen erzählt von einigen Unangepassten, die dem Mehrheits-Durchschnitt als neurotisch gelten. „Zwar ist sie sexy, doch hat ‚nen Komplex sie“ heißt es einmal.

Karikierte Traumfabrik Hollywood

Die Traumfabrik Hollywood, überhaupt die Kulturindustrie, werden wirksam karikiert; im Finale bietet ein mephistophelisch agierender Entertainer dem Paar, dem vor schierem ökonomischem Druck die Liebe abhanden kam, einige gängige Illusionen zum Trost und zur Ablenkung an. Susan und Sam scheinen zu entkommen, knapp. Wie weit sie wirklich voneinander entfernt sind, demonstriert ohne Worte die Tanzszene „Punch and Judy lassen sich scheiden“: Gekleidet wie das legendäre Tanzpaar Ginger Rogers und Fred Astaire, mit dessen Virtuosität und Eleganz auch, führen Maria Pires und Graham Smith (Choreographie und Tanz) vor, dass ein einander entfremdetes Paar zuweilen nurmehr grotesk stolpern kann.

It‘s the economy, stupid

Auch wenn Sam alles tut, um sich anzupassen – „Ich bin Ihr Mann“ heißt seine große Opportunismus-Arie – bleiben seine Jobs bei dem arbeitgeberfreundlichen „hire and fire – anstellen und feuern“ Arbeitsrecht unsicher. Andere als prekäre Jobs erwischt er selten. Und Zeit, ein drittes Kind zu zeugen, das Susan sich wünscht, hat er auch nicht. Das ist halt so, und ein tanzendes Männerquartett in Frankenstein-Masken liefert die Begründung: „That’s good economics, but awful bad for love – ökonomisch gut, grässlich für die Liebe.“ Eine Art Schlagerfuzzi taucht später auf, beklagt das von der Wallstreet bedrängte Leben und bekennt im Angesicht befrackter Großbürger, risikolos, seine Liebe zur Natur. Zu wem er wirklich gehört, zeigt die Inszenierung wortlos: Unterm schäbigen Mantel trägt der frohgemute Schnulzensänger selber einen Frack.

Die Freiburger Inszenierung beweist überzeugend die musiktheatralische Tauglichkeit des Werks. Ebenso überzeugend die Darsteller, Rebecca Jo Loeb und David Arnsperger in den Hauptrollen, der in verschiedenen Ensembleformationen glänzende Chor (Studienleitung Thomas Schmieger), Dirigent James Holmes und das Philharmonische Orchester Freiburg. Bühnenbildner Alfons Flores nutzt ausgiebig die Drehbühne, sodass Umbaupausen entfallen und das Tempo hoch bleibt. Die Kostüme von Merce Paloma sind eine Augenweide.

 

Susan im Illusions-Trubel, Groucho Marx dabei. Copyright Birgit Hupfeld, Theater Freiburg

 

 

 

 

 


Materialien: Über Love Life / im Newsletter der Kurt Weill Foundation for Music

Notizen zur Werkgeschichte / Weill-Newsletter-Interview mit Rüdiger Bering