Die andere Seite des Großen Protokolls

Gerhard Scheit
Copyright Heiner Wittmann

Brouillon freut sich, erstmals den Gastautor Gerhard Scheit zu begrüßen. Scheit, geboren 1959, zählt zu den wenigen unabhängigen Köpfen der neueren Kritischen Theorie. Er analysiert in „Suicide Attack“ (2004) und „Jargon der Demokratie“ (2007) den Selbstmordterror in Israel, den islamistischen Djihad, den neuen Antisemitismus und die Indolenz der westlichen Demokratien. In „Der Wahn vom Weltsouverän“ (2009) schreibt er über  das Ressentiment der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber Israel. In diesen aktuellen ideologiekritischen Studien knüpft er zugleich an die lange Zeit vergessenen, kritischen Begriffe des „Rackets“ von Max Horkheimer und des „Unstaats“ von Franz Neumann („Behemoth“) an. Von diese Begriffen ausgehend unternimmt das Buch „Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno“ (2011) schließlich auch den Versuch einer Neuinterpretation von Adornos Negativer Dialektik. Seit 2012 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift „sans phrase“.

Albert Drach: Die Gedichte erstmals in in der neuen Werkausgabe des Zsolnay Verlags

Von Gerhard Scheit

Die Rezeption von Albert Drachs Gedichten ist so gründlich versäumt worden, dass dem Band, der sie nun innerhalb der neuen Werkausgabe präsentiert, ganz besondere Bedeutung zukommt. Sein Herausgeber Reinhard Schulte sieht sich im Nachwort wie in den Erläuterungen genötigt, „einer Wiederholung des rezeptiven Desasters durch einen Kommentar vorzubeugen, welcher das fast ein Jahrhundert schuldhaft ausgebliebene Echo zu substituieren hätte“. Daraus erklärt sich die Intensität seiner Darlegungen, die immer auch jene Lese- und Denkgewohnheiten provozierend in Frage stellen, denen Drachs Gedichte zum Opfer gefallen waren. Es ist eine kritische Ausgabe in einem anderen als bloß germanistischen Sinn, nach allen Regeln der Editionskunst buchstabiert sie das Unversöhnliche aus, das in jedem Zyklus andere Abbreviaturen findet. Schulte selbst spricht vom „lyrischen Zynismus“, und als dessen Methode sieht er einen „hartnäckig verstörenden Spin“: die permanent erzeugte Abweichung von der erwarteten Sinngebung. Die Metapher erfasst auf bemerkenswerte Weise die Eigenart dieser Gedichte. Der Spin lässt sich nicht abschätzen. Darin erweist sich Drachs Lyrik mitunter kritischer als der Materialismus Brechtscher Songs, an die nicht wenige Gedichte gerade auch im leerlaufenden Reim erinnern. Wenn bei Brecht die Abweichung zuletzt als Königsweg zu einem neuen positiven Sinn, der Zynismus als Propädeutikum kommender Tugenden dient, vermag Drach an der Negativität festzuhalten; dabei allerdings bleibt sein lyrisches Werk eigenartig auf die Religion fixiert. Es ist, wie Schulte sagt, „ein mephistophelisches, das einzige deutscher Sprache, das auf einen solchen Titel Anspruch machen dürfte. Der mit Philosophie, mit Theologie auf dem Duzfuß stand, ließ kein Philosophem, kein Theologumenon undemoliert (…)“.

Zunächst wird der Erlösungsbegriff dem Christentum entführt: Erlösen soll der Heiland nicht von einer Schuld, die den Menschen unterstellt wird, sondern vom Leiden. Im „Traum der Erlösung“, den der Neunzehnjährige niederschreibt – nicht unwahrscheinlich für den Herausgeber, dass man in ihm einmal das Zentrum des poetischen Werks erblicken wird –, hat der Gekreuzigte „die Gottheit“ aufzugeben und „Satans geringster Diener“ zu sein, um zuletzt seine Seele zu verlieren. Wortlos und sonnenlos wirkend, wird er das Leid verbracht haben von dieser Welt – durch nichts anderes, als dass er bei den Leidenden bis zuletzt bleibt. Die Deutung des Gedichts vor dem Hintergrund von Drachs Protokoll Z. Z. ist zwingend: es sind die Juden die Leidenden, das Leid trifft sie doppelt, weil sie als Objekt des Antisemitismus auserwählt sind; weil der Erlösungsmord, so Schulte „auch die Bezichtigung und den Antisemitismus in die Welt brachte, und ihre (in Christi Rücken, aber doch nicht ohne ihn bewirkten) Leiden sind es, die aufzuheben oder wenigstens mitzuleiden dessen – einzig noch triftige – Sendung wäre“. Der diese Erlösung Träumende stellt „zweitausend Jahre Elendgeschichte vom christlichen Kopf auf die jüdischen Füße und diese auf eine nichtantisemitische Erde“. Das ist der Materialismus des Albert Drach, der ohne einen Begriff von Erlösung nicht auskommt – und der sich letztlich nur auf sein Ich verlassen kann, um die Welt zu denunzieren: „An Drachs gelebter Künstlerschaft kann man studieren, wie der Solipsismus, der verbissen wörtlich genommen selbst zum Wahn inkliniert, fruchtbar und sogar heilsam zu werden vermag als heuristisches Prinzip: als Abarbeiten und Ins-Werk-Setzen eines gerade ichfremden, ja ichvernichtenden Wirklichkeitsstoffs.“

So nah dieser produktive Narzissmus bei der Fackel angesiedelt ist und so sehr die kritische Zerstörerarbeit dieser Lyrik an die Produktivkraft des Karl Kraus denken lässt, es bleibt eine Differenz, die Schulte genau markiert: Der Jüngere weiß früher als der Ältere, „daß die Juden die Opfer sein werden“. Folgerichtig zeichnet sich zwischen Kraus und Heine eine Versöhnung in effigie ab, die in die lyrische Form eingeht, denn Drach setzt eben im Reim selber den ungeheuren Zynismus frei, den Heines prosaische Bemerkungen über den Judenhass im Christentum und über den Nationalismus der Deutschen enthalten, um zugleich die Konsequenz aus den Letzten Tagen der Menschheit zu ziehen, und statt Gott und Jesus Christus, die darin abtreten, auf den Satan, de Sade und die Juden setzt: das sind die notwendigen Erlöserfiguren, die jener Versöhnung entspringen.

Der Lyriker Drach nimmt also den Antisemitismus beim Wort, versetzt sich in die Projektionen der Antisemiten, die immer schon den Vorstellungen vom Satan verwandt waren. So werden die Verfolgten zum Garant der Erlösung: die negativ-theologische Option fürs Böse, von dem sich Drach den Umschlag erwartet – eine mit sich selbst versöhnte Welt –, unterscheidet sich genau darin aber von de Sade, dass sie nicht unabhängig von antisemitischer Verfolgung gesehen werden kann, deren Gefährlichkeit, psychologische Bedeutung und gesellschaftliche Verwurzelung schon der junge Drach sofort begriffen haben muss. Dennoch lässt die Figur de Sades den Autor nicht mehr los, als ob sie – ähnlich wie in der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer – dafür bürgen könnte, dass Erlösung von der falschen Zivilisation möglich sei.

Im Zyklus Die Hunde bellen den Mond an von 1929-1934 ist der lyrische Umgang mit den Projektionen in seiner kältesten, gleichgültigsten Gestalt zu beobachten: z. B. das Mondanbellen im Lichte der vaterländischen Liebe: „Ein Hund liebt immer sein Vaterland / Das sagt ihm schon sein Hundeverstand /…/ Nur den Mond liebt er auf keinen Fall, / Denn der Mond ist international“. Oder das Mondanbellen unter dem Gesichtspunkt der Rassenkunde: „Der Mond ist vielleicht ein Jud, / Weil er nichts Gutes tut. / Er stiehlt ja von der Sonne das Licht, /Sonst hätt er es nicht. / Bodenständig kann er nicht sein; / Statt wie ein Hund an der Kette zu hängen, / Muß er sich droben ganz gemein / Dem lieben Gott aufdrängen. / Und was tut er wohl im Vorüberwandeln? / Wahrscheinlich mit den Sternen handeln. / Und warum / ist sein Sichel so krumm?“

In der Unbekannten Fahrt von 1936/37 ist jedes Sonett einer Gestalt gewidmet, die noch imstande ist, die bellenden Hunde in Schach zu halten – sei’s de Sade oder Ahasver, Luzifer oder Franz von Assisi, Casanova oder der eigene Vater. In der Ahasverischen Elegie von 1937/38 bleibt nur noch der ewige Jude zurück: Der Ton ist radikal geändert, der Reim aufgegeben, die Ichform angenommen.  Auf dem Mond wusste man sich noch in sicherer Distanz zu den Hunden, sie konnten einen nur anbellen – dieser Abstand zwischen Erde und Mond ist der lyrische Ausdruck, den Drach für das „Minimum der Freiheit“ (Franz Neumann) gefunden hat, das der Rechtsstaat bieten kann. Es wurde seit 1933 abgeschafft: die Hunde bellen nicht mehr den Mond an, auf dem der Zyniker sich noch sicher fühlen konnte, sondern verfolgen Ahasver durch alle Zeiten und Welten hindurch. Atemlosigkeit kennzeichnet diese ganz und gar nicht elegische Elegie: Drachs Ahasver hat keine Schuld, außer der, dass er ohne Grauen leben wollte. Aber eben das wird ihm verwehrt – und Christus, der das Grauen verkörpert, ist es nun, der an seiner Stelle, dank des Grauens, das er verbreitet, „friedlich“ sitzt: „Im Ölbaumschatten / Und auf den Stufen / Vor meinem Haus“.

Das Haus ist ein christliches geworden, und was immer Christentum sein mag, in dem Land, von dem diese Lyrik handelt, bedeutet es: die „Arisierung“ ist nur noch eine Frage der Zeit. Wenige Wochen, nachdem Drach die Ahasverische Elegie geschrieben hatte (sie dürfte im wesentlichen vor dem „Anschluß“ Österreichs im März 1938 entstanden sein), machen sich die Mödlinger Volksgenossen auch schon daran, das Haus „des Juden Drach“ zu enteignen. Sein Vater hatte es 1917 erworben, seit Gymnasiastentagen hat er darin gewohnt, noch gut vor dem allerorten sich bereits vorbereitenden Schrecken behütet. Im Oktober 1938 beginnt das Exil, das Drach über Split nach Frankreich führt. „Eines nur wurde gewährt: / Daß ich leb, nur das / Und so lebe ich denn“ (139), lässt er Ahasver sprechen. Immer wieder in Internierungslager gebracht, gelingt es dem Autor nach der Flucht aus dem Camp Saint-Nicolas, sich als „Arier“ auszugeben.

Noch ehe er sich schließlich in einem kleinen Gebirgsdorf bei Nizza verstecken kann, wo er dank der Hilfe der Bewohner überlebt, beginnt er einen neuen Gedichtzyklus: Die Breite Straße zu Gott: Angesichts „der Erfahrung des unermesslich gesteigerten kollektiven Grauens“ sind diese Gedichte „von der Ich- in die Wir-Form transponiert“, wie der Herausgeber festhält. Und sie kehren intermittierend auch zurück zum Reim, um dieses Kollektive unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, aber es ist ein Negatives, und darum sind auch diese Reime zynisch im reflektiertesten Sinn. Was in der Ahasverischen Elegie noch mythisch in der Stimme eines einzigen zusammengefasst war, ist nun als der Weg namenloser Massen kenntlich. Doch im Kollektiv, zu dem die Verdammten gezwungen sind, beginnt erst recht die Einsamkeit, sodass dann auch Reim und Sonettform erscheinen wie altes ausgetretenes Schuhwerk, das man auf der Straße zurückgelassen hat: „Verdrängt in der Menge / Jeder von allen / Wie Spreu versprengt, / Weit einsamer einer / Als wer allein“ –  „Und niemand sieht des andern Gesicht / Wie er nichts um das eigene weiß.“ Griff die Ahasverische Elegie zur alten antijüdischen Legende, so beruht die Breite Straße bereits auf der religiösen Überlieferung der Juden. Doch umgestülpt wird auch sie: die breite Straße führt in die Hölle, ist selber schon ein Teil von ihr: „Breite Straße / Zu treten, die ohne Trost / Zur Verdammnis sich dehnt“. Nur dass dieser Verdammnis keinerlei Sinn zukommt, sie zeugt vielmehr von einem objektiv Unbegreiflichen – davon, dass die Mächte gegenüber den Individuen, die sie doch hervorbringen und tragen, sich verselbständigt haben und ungreifbar geworden sind: „Die lauen Hände, in die wir gelegt sind / Sie sind von keinem Sinn geführt, / Sie sind an keinem Körper gewachsen, / Und ohne Gnade und Fluch des Bluts.“ Allein diese Zeilen genügten, das Urteil des Herausgebers zu bestätigen: es handle sich um „eines der kühnsten Projekte der Exildichtung überhaupt“.

In der Schluss-Sequenz des Großen Protokolls gegen Zwetschkenbaum übersetzt Albert Drach dieses Unheimliche, das die Breite Straße zu Gott beschwört, in die Prosa der politischen Ökonomie. Aber es wird deshalb nicht weniger unheimlich. Der „Finanzmann“ Josef von Grzezinsky spricht hier ausführlich von einem „Zerstörungstrieb der Massen“, der an keinen Körper mehr gebunden scheint. Um seinesgleichen jedoch davor zu bewahren, offeriert er eine „Begriffsspaltung“, die einen Körper vortäuscht: die antisemitische Projektion, wonach die Juden alle negativen Eigenschaften des Kapitals leibhaft personifizieren. Es wird nicht nur das „raffende vom schaffenden Kapital geschieden“, wobei im Begriff des ersteren „das fremde, anonyme, also anrüchige internationale Kapital zurückbleibe“, sondern es empfehle sich, „das anonyme Kapital sichtbar zu machen, da die Masse – „ein natürlicher Menschenfresser nährt sich nicht von Begriffen“ – nun einmal „etwas Bildhaftes, Greifbares“ für das Ungreifbare des Kapitals vorgesetzt bekommen möchte. Aus diesem Grund möge man „den häßlichen Juden, den dicken Juden, der Geld hat“, hinter dem Begriff hervorziehen, „mit der Begründung, daß er es denen aus dem Volke entzogen habe, die es nicht besitzen“, aber auch „der dünne Jude“ müsse hervorgezogen werden, da dessen Hinterlist schon „eine Anwartschaft auf Geld sei, und der es jenen aus dem Volk entziehen wolle, die es noch besitzen“.

Drach geht jedoch noch weiter: Wie kein anderer, kein antifaschistischer Schriftsteller und kein marxistischer Theoretiker, durchschaut er die Dynamik solcher „Krisenbewältigung“ und darin leistet sein Zynismus als Erkenntnismethode ein Äußerstes, vor dem die Moralisten nur zurückschrecken können und wofür die Ökonomen den beschaulichen Ausdruck der „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter) geprägt haben: „Ein Mann ohne Familienbindung, aus den dankbarsten und gebräuchlichsten Schlagwörtern geknetet, werde“, so Grzezinsky, „als Personifizierung der Massen diese, zum Block geschweißt, einem Weltbrand zuführen, aus dem die neue gesicherte Ordnung sich wie ein Vogel Phönix erheben könne.“ Dieser prosaische Zynismus ist die Voraussetzung dafür, die Täter darzustellen, ohne sie zu exkulpieren und ohne sie zu dämonisieren. Denn wer dieses Große Protokoll liest, kann es sich in der Entrüstung über sie nicht bequem machen, er sieht sich selbst ins Visier genommen. Der Autor lässt ihm keinen Ausweg: entweder man steht zu dieser Ordnung, dann hat man auch im Sinne Grzezinsky die Vernichtung gutzuheißen, oder diese Ordnung muss als solche verworfen werden. So lautet das ‚Existentialurteil‘, wofür Drach seine Romanfigur als eine Art Copula geschaffen hat. Denn Grzezinsky gehörte selbst ursprünglich zu denen, die „auserwählt“ sind, das fremde, anonyme, also anrüchige internationale Kapital zu verkörpern. Es gelang ihm aber, die Identität zu wechseln und als nichtjüdischer Finanzmann zu gelten, das heißt: die Begriffsspaltung an sich selbst zu vollziehen. Abgespalten wird sein Bruder Schmul Zwetschkenbaum, Titelfigur des Romans, gegen den das große Protokoll verfasst wird, weil er, schon wegen des Namens, im Verdacht steht, Zwetschken gestohlen zu haben – und dieser Verdacht ist gerade so absurd wie das Gerücht, das die Juden das Kapital verkörpern. Die Form des Protokolls, wie Drach sie erst im Exil wirklich entwickelt hat – was er davor im Protokollstil schon verfasste, entspricht noch nicht dieser Form, ist wirklich bloßer Stil –, wird dem Autor zur einzig möglichen Form jenes Existentialurteils: Denn das Ganze, dem das Urteil gilt, kann nicht unmittelbar von denen aus erfasst werden, die ihm zum Opfer fallen, ja, es kann nicht einmal in deren Gegenwart zur Sprache gebracht werden. Weil Grzezinsky seine Identität wechselte, vermag er es in seiner Funktionalität zu durchschauen und als Durchschautes dann zynisch zu affirmieren, aber es mit ganzer Seele bejahen und noch das Schlimmste, das ihm entspringt, verinnerlichen in unfassbarer Gemeinheit, vermag nur der Protokollführer. In der Art und Weise, wie das Protokoll verfertigt ist, gerade in den kleinsten Wendungen der Ausdrucksweise, bringt Drach mehr von der Konstitution der Täter und Mitläufer zum Ausdruck als die meisten zeitgeschichtlichen Untersuchungen. Deutlich wird an dieser Konstitution, dass der Staat nun nicht mehr als eigentlicher Souverän auftritt, der die Gleichheit der Bürger und die Vertragsverhältnisse durchsetzt. Bei Drach ist er vermenschlicht in der fürchterlichsten Weise, und eben darin besteht das Unheimliche, das – im Unterschied zu Kafkas Prosa – so anheimelnd erscheint. Es ist die vielleicht einzig möglich literarische Form, einen Justizapparat zu beschreiben, der die Nürnberger Gesetze sich zu eigen gemacht hat und darin dem Ganzen einen Sinn setzt, sodass Recht als das bloße Mittel zur Durchsetzung der Vernichtung fungiert. Das Protokoll erlaubt den Tätern und Mitläufern die Anonymität, und zugleich eröffnet es ihnen jede Möglichkeit, ihre Triebenergien darin zu investieren, die schließlich alle im Zerstörungstrieb der Masse aufgehen. Dem Autor ist die Form des Protokolls aber ein Vergrößerungsglas dafür, wie diese Investition im Inneren des Subjekts vor sich geht.

In den Gedichten hingegen ist festgehalten, was solche Protokolle vom Menschen übriglassen. Vom „nichterwähnten Holocaust“ handle alles, sagt Reinhard Schulte über die Breite Straße zu Gott und hält zugleich fest, wie der Gedichtzyklus gerade „an den Tätergedichten scheiterte“. Dieses Unvermögen der Gedichte, das im äußersten Kontrast zur singulären Entlarvung der Täter, Mitläufer und Zuschauer in den Großen Protokollen steht, liegt offenkundig daran, dass in der Breiten Straße zu Gott wie auch in der Ahasverischen Elegie eben jener Schmul Zwetschkenbaum – „der völlig teilnahmslose Häftling“, der von seinen Verfolgern keine Notiz nimmt, sie keines Blickes würdigt, nur angibt, „daß er die Zwetschken nicht gestohlen habe“ – eine eigene Stimme bekommt. In ihr die Täter anzuklagen, käme ihnen schon zu sehr entgegen, denn sie bleibt in allem von einer eigentümlichen Teilnahmslosigkeit, worin eben die Erfahrung der Verfolgung und Vernichtung den extremsten Ausdruck findet. Es ist manchmal sogar, als würde Drach seine Gedichte aus der Perspektive dessen schreiben, den man in den Lagern als „Muselmann“ bezeichnete: „Verdrängt in der Menge / Jeder von allen / Wie Spreu versprengt, / Weit einsamer einer / Als wer allein“ –  „Und niemand sieht des andern Gesicht / Wie er nichts um das eigene weiß.“ Damit wird auch die Nähe zu Paul Celan deutlich, der noch einen Schritt weiter ging, „durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids“, wie Adorno sagt. Dessen Interpretation von Celans Gedichten kann indirekt auch Aufschluss geben über Drachs Lyrik. Während Celan, wenn er das äußerste Entsetzen durch Verschweigen zum Ausdruck bringt, die Sprache selbst angreift, und eine andere, unterhalb der hilflosen der Menschen, ja aller organischen nachahmt, „die des Toten von Stein und Stern“, sucht Drach die hilflose in ihrer religiösen Form zu bannen. Und wenn bei Celan die Sprache des Leblosen zum letzten Trost über den jeglichen Sinnes verlustigen Tod wird und darum der Übergang ins Anorganische erfolgt, lässt Drach die religiösen Motive als Sprache des Leblosen erklingen und parodiert mit ihr den falschen Trost des Lebendigen.

 

Drach 2009: Albert Drach: Gedichte. Werke. Hg. v. Ingrid Cella u.a. Bd. 10. Hg. v. Reinhard Schulte. Wien 2009