Gertrud Kolmar: Personenkonstellationen

Wir freuen uns, Peter Sühring als Gastautor zu begrüßen. Eine Kurzfassung seines Gedenkartikels für Gertrud Kolmar haben wir schon publiziert Zum 75. Todestag von Gertrud Kolmar Peter Sühring, geboren 1946 in Berlin, arbeitete als Buchhändler und ist Musik-und Literatuwissenschaftler, wurde 2006 über Mozarts Kindheitsopern promoviert. Er erschloss und bearbeitete den Nachlass und das Lebenswerk des Musikforschers Gustav Jacobsthal. Er vertritt eine einheitliche, in sich mehrdimensionale Musikwissenschaft und eine Auffassung von Musikgeschichte jenseits von Epocheneinteilungen und normativen Ästhetiken. Stattdessen strebt er eine musikalische Poetik des einzelnen musikalischen Künstlers und eine Hermeneutik des einzelnen musikalischen Kunstwerks an, dessen Sinn meist unter kulturellen Diskursen verschüttet liegt.

 

Robespierre, Chodziesner, Benjamin, Wenzel:

Personenkonstellationen um Gertrud Kolmar

Engführungen des Familiären, Poetischen, Politischen und Religiösen

Von Peter Sühring

 

 

Im Familienroman der Gertrud Kolmar (bürgerlich Chodziesner) spielt die auch ihr Leben stark prägende Figur des Vaters eine besondere Rolle. Das Haus Hohenzollern, das die beiden deutschen Kaiser Wilhelm I. und Wilhelm II. stellte, seine Hofkamarilla und die von ihm bestellten leitenden Regierungsbeamten, die stets gegen eine liberale Mehrheit in den konstituierten Parlamenten (den Preußischen Landtag und Deutschen Reichstag) regierten, brauchten, um ihre Politik durchsetzen und aufrecht erhalten zu können, auch juristischen Beistand. Dieser wurde ihnen aus der Reihe der besten Anwälte Deutschlands, die oft jüdischer Herkunft waren, auch gewährt. Einer der erfolgreichsten, angesehensten und spektakulärsten war der Rechtsanwalt Ludwig Chodziesner. Er konnte nach 1933 gar nicht fassen, dass die Nationalsozialisten, in denen er eine Clique sah, die die Humanitätsideale des altpreußischen Staates mit Füßen trat, seine Verdienste nicht berücksichtigen würden, um ihm einen unbehelligten Lebensabend und seiner Familie eine gewisse Schonung zuteilwerden zu lassen. Er wehrte sich deswegen gegen die „Emigrationshysterie“ seiner Kinder. Diese waren alle, außer seiner Gedichte schreibenden Tochter Gertrud Kolmar, bemüht, außer Landes zu kommen und konnten wiederum seine gefährliche Naivität und Passivität gar nicht fassen, konnten ihn und die Schwester Gertrud aber nicht daran hindern bis zur Deportation, die in den frühen vierziger Jahren nach dem Emigrationsverbot für Juden immer unausweichlicher wurde, im Lande zu bleiben.

Ludwig Chodziesner wurde 1861 in Obersitzko, nördlich von Posen geboren. Seine Vorfahren väterlicherseits stammten aus dem Ort Chodziesen. Nach dem Abitur im Jahre 1879 in Wongrowitz nahm er das Studium der Jurisprudenz in Berlin auf. Nach dem Assessor-Examen wurde er ein bekannter Strafverteidiger und später zum preußischen Justizrat ernannt. Seiner Ehe mit Elise Schönfließ (deren Mutter Hedwig Schönfließ die gemeinsame Großmutter jeweils mütterlicherseits von Walter Benjamin[1] und Gertrud Kolmar war) entstammten vier Kinder; Gertrud legte sich als Dichterin das Pseudonym Kolmar (die Eindeutschung des Städtenamens Chodziesen) zu. Nach Lebensperioden in Berlins besten bürgerlichen Wohngegenden (Schlossviertel, Kurfürstendamm-Viertel und Charlottenburg-Westend) zog die Familie 1923 in eine Villa nach Finkenkrug bei Berlin, an der Bahnlinie Spandau–Nauen, wo die Mutter Elise bereits 1930 starb. Im Jahre 1938 musste das Haus in Finkenkrug verkauft und eine so genannte „Judenwohnung“ in Berlin-Schöneberg bezogen werden, in der zunehmend beengte Verhältnisse herrschten. Gertrud Kolmar lebte bei ihrem Vater bis zu dessen Deportation im September 1942. Am 13. Februar 1943 verstarb Ludwig Chodziesner in Theresienstadt, die Todesursache ist nicht festgehalten worden.

Sein Bruder Siegfried, auch Rechtsanwalt, war ab 1904 als Rechtsvertreter von Magnus Hirschfeld und seines Instituts für Sexualwissenschaft (1919–1933) tätig. Er verteidigte Hirschfeld nach dessen Umfrage zur sexuellen Orientierung von Studenten, die ihm den Vorwurf einbrachte, die Befragten damit beleidigt zu haben. Er gehörte zu den drei Gründern der Hirschfeld-Stiftung, für die sie bereits im Februar 1918 den Status einer gemeinnützig rechtlich anerkannten Einrichtung beantragten. Er war Mitglied des “Wissenschaftlich-humanitären Komitees”, blieb bis Ende 1923 im Stiftungsvorstand des Instituts und führte gleichzeitig eine Anwaltspraxis in Berlin. Er half in den Jahren 1906–09 seinem Bruder Ludwig bei der Verteidigung des Grafen Philipp zu Eulenburg, der unter den Verdacht gestellt wurde, die damals noch (und bis 1994!) nach § 175 StGB als unzüchtig-strafwürdig angesehene männliche Homosexualität ausgelebt zu haben; und zwar während Ausflügen mit der kaiserlichen Yacht in norwegischen Fjorden und im Mittelmeer, sowie während gemeinsamer Jagdveranstaltungen in der Mark. Die geschiedene Frau des Grafen brachte den Zweck der Anklage auf den Punkt: „Sie zielen auf meinen Mann, aber sie versuchen den Kaiser zu treffen“. Die durch Enthüllungen Maximilian Hardens, die von der sozialdemokratischen Presse begierig aufgegriffen wurden, ausgelöste Anklage wurde von Ludwig Chodziesner im Interesse des Kaiserhofes einzig und allein dadurch niedergeschlagen, dass er es ablehnte, über die evtl. Geschehnisse überhaupt verhandeln zu lassen, sondern ausschließlich und mit Erfolg auf Verjährung plädierte.

Der andere berühmte Prozess im Oktober/November 1903 ging um eine Anklage auf „gewinnsüchtige Kindesunterschiebung“, die sich gegen das polnische gräfliche Adelspaar Zbigniew und Isabella Kwilecki richtete. Sie hätten ihr Majorat in Wroblewo von 18000 Morgen in Ermangelung eines männlichen Erbfolgers komplett an eine Seitenlinie der Familie vererben müssen. Der Graf war schon 80 Jahre und seine Frau 50 Jahre alt. Sie hatten bisher nur einen früh verstorbenen Sohn und mehrere Töchter in die Welt gesetzt. Plötzlich (nach einem spätliebesfrühlingshaften Sommerurlaub des Paares) geschah das „Wunder“ einer erneuten Schwangerschaft und eines neu geborenen Sohnes, von dem die Gräfin in Berlin entbunden wurde. Nachdem von einem Posener Gericht die Legitimität dieses Sohnes beschieden worden war, stellte der (sich um seine Erbschaft geprellt sehende) Vetter des Grafen Strafanzeige wegen Verbrechens gegen § 169 StGB. Gegen die Mutter wegen Kindesunterschiebung, gegen den Grafen wegen Mittäterschaft und gegen das Hausgesinde wegen Meineids. Das am 19. Verhandlungstag im November 1903 gehaltene Schlussplädoyer Ludwig Chodziesners, nach welchem die Geschworenen auf Freispruch entschieden, ist überliefert. Hier seien nur die markanten Passagen zu den Fragen der Wahrheitsfindung und des Meineids zitiert:

„Und damit komme ich zu der Frage: Was ist Wahrheit? Über diese Frage hat man sich seit Jahrtausenden den Kopf zergrübelt. Die Wahrheit ist eine spröde Schöne, die sich nicht demjenigen entschleiert, der da meint, sie auf Grund einer aus den Akten gewonnenen Voreingenommenheit gewinnen zu können. Einst hielt man für Wahrheit, daß die Erde stille stehe – und sie bewegt sich doch! Im Interesse der angeblichen Wahrheit hat man Luther verfolgt und Huß verbrannt, und der Molochdienst der Wahrheit fordert auch in unseren Tagen noch immer Opfer. […]“[2]  

Seine Tochter Hilde, verheiratete Wenzel, die 1938 in die Schweiz flüchten konnte, hat in ihren mit „Gertruds Ahnen“ (der ihrer Schwester Gertrud Kolmar) betitelten Aufzeichnungen aus dem Jahre 1962, in dem Heft „Vaters Familie“ folgendes über die Stellung und die Ansichten ihres Vaters Ludwig Chodziesner hinterlassen:

„Vaters bedeutendste Prozesse, der Kwilecki-Prozeß 1903 und der Eulenburgprozeß, brachten ihn in Kreise, die zu seinem Judentum in keiner Beziehung standen, ebenso auch später der Adlon-Prozeß. Man mag dies in der Rückschau natürlich bedauerlich finden, aber der Umgang ergab sich aus seinem Beruf und war kein bewusstes Abtrünnigwerden von der Religion seiner Väter. Niemals hätten die Eltern sich taufen lassen oder gar ihre Namen geändert, wie es in jener Zeit viele taten. […]

Zu dieser Einstellung kam noch der merkwürdige Umstand, der allen Rassetheorien Hohn spricht, daß der Vater in der auffallendsten Weise dem deutschen Kaiser ähnlich sah. Ein Spiel des Zufalls, der Hohenzollern-Abkömmling und der jüdische Rechtsanwalt aus der Ostmark. Die Ähnlichkeit war so frappant, und zwar nicht nur wegen des Schnurrbarts und der Haartracht, daß die Kinder, wenn der Vater mit dem Velo durch den Grunewald fuhr, ihm nachriefen: „Der Kaiser, der Kaiser!“ Wir bewahrten eine illustrierte Zeitung auf, in der es eine Seite ’berühmte Doppelgänger’ gab und eine davon war: Der deutsche Kaiser und der bekannte Strafverteidiger Ludwig Chodziesner.

Man sieht daran aber auch, wie liberal [in Sachen des Judentums] das Kaiserhaus war. Der Vater äußerte, er wisse überhaupt nicht, wie die zu seiner Fotografie gekommen seien. Wir aber waren begreiflicherweise sehr stolz darauf.“[3]

In seiner aus Wahrheit und Dichtung, Recherche und Imagination gemischten Biografie Gertrud Kolmars gibt Dieter Kühn zwar einige nützliche und neue Hinweise und eine atmosphärisch dichte Beschreibung der allmählichen äußeren und inneren Verfinsterung der Lebensverhältnisse von Vater und Tochter Chodziesner, versagt aber seltsam verständnislos vor ihrer Dichtung. In einem fingierten, dem Vater Gertrud Kolmars in die Feder gelegten brieflichen Bericht, der als Werkstoff dienen soll für eine von der Tochter Hilde zu schreibende Familienchronik, imaginiert Kühn in dieser literarisch ausgeschmückten Biografie eine (gut?) erfundene Szene. Kühn lässt dort Ludwig Chodziesner über seinen Vater Julius, Kurzwarenhändler, und seine Mutter Johanna, geb. Aschheim, schreiben:

„Der Höhepunkt seines Lebens, der einzige Rausch, den er je gehabt hatte, waren jene Novemberwochen des Jahres 1903, wo der Name seines ältesten Sohnes, sein und Euer Name, in aller Munde, in allen Zeitungen als der erfolgreiche Verteidiger der Gräfin Kwilecki, Isabella geb. Bininska, genannt und gefeiert wurde. Als die Leute in der kleinen Synagoge in der Schulstraße zu Charlottenburg sich um ihn drängten, als jeder ihm gratulieren wollte und die Hand schütteln wollte, da fühlte er: ’Ich habe nicht umsonst viele, viele Jahre einsam gelebt, gearbeitet und gedarbt, ich habe nicht umsonst gelebt’. Und erhobenen Hauptes, frohen Herzens kam er aus der Synagoge nach Haus, in seinen Augen standen Freudentränen, und er erzählte meinem stillen Mütterchen, welches Heil ihm widerfahren. Sie nickte, sie strahlte, aber sie sprach kein Wort. Sie faltete nur ihre ausgearbeiteten, mit dicken Gichtknoten versehenen Hände und betete zu Gott. ’Gelobt sei Schem-boruch-hu!’“[4]

Tatsächlich existiert ein Foto von Julius und Johanna Chodziesner, wie sie während eines Besuches in der Westendvilla, Ahornallee 37, am 28. August 1906 (an Ludwig Chodziesners Geburtstag, der auch zufällig jener Goethes ist) bei der Familie ihres so glänzenden Sohnes auf der Veranda sitzen.[5] Hilde Wenzel wusste nur so viel: „Auf jeden Fall besteht keinerlei Zweifel darüber, daß die Großeltern [väterlicherseits] wahre und sehr fromme Juden waren und viel weniger liberal und aufgeklärt als die Vorfahren [mütterlicherseits] Hirschfeld und Schönflies.“[6]

Im Hause der Familie Ludwig Chodziesner wurde aber wohl über die Jüdischkeit der Familien vater- und mütterlicherseits und über eine Zugehörigkeit zum Judentum, obwohl die Eltern sich nicht christlich hatten taufen lassen, kaum gesprochen. Die 1894 geborene Tochter Gertrud (Kolmar) thematisiert diese Entfremdung von der Synagoge und von einem Leben nach den Ritualgesetzen bereits in ihrem Roman Eine jüdische Mutter aus dem Jahr 1931. Als die Hauptfigur Martha Wolg nach dem Verlust ihrer Tochter Ursa trostsuchend eine Synagoge aufsucht, endet das enttäuschend:

„Es war auch im Tempel kühl gewesen, kühl und recht leer. Die wenigen Weiblein auf kahlen Bänken vereinsamt im Halbkreis droben, ein paar alte Männer drunten. Und der Prediger sprach nicht deutsch; war es deshalb, daß sie ihn schlecht verstand und kaum folgen mochte? Ihr bisschen Hebräisch war längst doch verschüttet. Glasperlen in einem löchrigen Säckchen, das sie als Kind besaß. Aber dies Reden auch floß ihr fort, unaufhaltsam, schläfernd wie Körnergerinnsel, entschlüpfte zwischen den Fingern. Sie ertappte beschämt sich selbst dabei, wie sie im wenig geschmückten Raume ein Schnörkelstück, einen Zierrat suchte, ihren Blick darauf hinzuhängen. Sie verließ das Gotteshaus mit dem Empfinden: Unschwer erfüllte Pflicht. Hatte sie, da sie eintrat, dies Ziel nur, die Absicht gehabt? Seit Ursas Tode war sie nun schon mehrmals im Tempel gewesen, stets unklar hoffend, der Klage Trost, ihren Fragen Antwort zu finden, und schied doch immer etwas enttäuscht, nüchtern, mit leeren Händen. Sie schwor sich: ’Es ist nichts. Es gibt mir nichts. Ich geh nicht mehr hin.’, und kam dann wieder, unwillig fast, wie unter gewissem Zwange, wie einer den Freund seiner Jugend besucht, den ihm Jahre zuinnerst entfremdet. Er müht sich vergebens, die Züge zu schaun, die er einst an ihm liebte, das Band zu erkennen, das sie geeint; er findet nichts, es ist alles fort, und dennoch, in alter Anhänglichkeit und gehemmt von Erinnerungen, gewinnt er den Mut, die Härte nicht, des andern Tür hinter sich zuzutun und niemals wiederzukehren. So war das.“[7]

 

Erst die Nationalsozialisten erzwangen eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum. Und sie nahm bei Gertrud Kolmar empathische, aber destruktive, selbstzerstörerische Züge an. Mit dem Jahr 1933 begann bei ihr eine erneute Hinwendung zur Französischen Revolution, speziell zur Figur des fanatischen Jakobiners Robespierre[8]; dann schrieb sie Klagegedichte über die Verfolgung der verstummten roten Kämpfer in den NS-Gefängnissen, denen sie mit ihren Gedichten eine (innere) Stimme verleihen wollte.[9] Und sie flüchtete sich in andere, nicht nur mythisch, sondern orientalisch, asiatisch anmutende, an den Hölderlin’schen Kaukasus gemahnende, imaginierte „Welten“, in denen sie eine andere Heimat und vielleicht auch eine andere Mutter und einen anderen Vater fand.[10] Wolfdietrich Schnurre beschrieb 1960 zum Gedächtnis an Gertrud Kolmar in einem Rundfunkvortrag seine schockartige Lektüre dieses Bandes: „Es war 1947. Ich hatte mir von der Deutschen Rundschau, für die ich arbeitete, den monatlichen Stoß zu besprechender Gedichtbändchen und Lyrikhefte abgeholt. […] Plötzlich freie Rhythmen; ich las mich fest, bekam Herzklopfen: Hinter der unheilbar versehrten Menschenwelt draußen wuchs eine andere Welt auf, ohne Menschen, den Fingerabdruck Gottes noch auf den Gebirgskämmen, meerumspült“.[11]

Die Verherrlichung Robespierres, der wie ihr Vater (mit dem sie in einer freiwillig über sich verhängten Zwangssymbiose lebte) Anwalt war, gewann bei ihr verklärte Züge. Er soll so edelmütig und unbestechlich und rein gewesen sein, dass er sogar einer (jeder politischen Macht in einer ordentlichen Republik zur Korrektur beigegebenen) institutionellen Opposition nicht mehr bedurft habe, denn diese Korrektur soll bei ihm, so Kolmars „Bildnis“, schon in seiner eingeborenen Fähigkeit zu skrupulöser Selbstkritik, in seinem einwandfrei funktionierenden Gewissen installiert gewesen sein[12]. Man vergleiche diese übermenschlichen Zuschreibungen mit der klarsichtiger scheinenden Kritik, die Friedrich Sieburg nur zwei Jahre später, 1935, zum Teil aufgrund der gleichen Quellenbasis[13], formulierte: „Robespierre hat nur eine einzige Idee. Die Einfachheit seines Weltbildes, die Ausschließlichkeit seines Wollens und die Abwesenheit störender Leidenschaften geben ihm die unwiderstehliche Stoßkraft, die ihn zum ersten Manne der Französischen Revolution macht. Er tötet seine Mitmenschen um dieser Lehre willen, aber er stirbt auch selbst für sie. […] Seine Erfindung ist die Überführung der religiösen Intoleranz auf das politische Leben, ist die Gesinnungspolitik, die nicht mehr den Bruch der Gesetze, sondern die abweichende Gesinnung bestraft.“[14] Wollte man diese Formulierung Sieburgs als eine versteckte Kritik an Hitler interpretieren, würde man dessen Absichten schon zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich wohlwollend missverstehen[15]. Es ist nicht bekannt, ob Kolmar auf Sieburgs Robespierre-Buch reagiert hat. Auch dürfte Kolmar schwerlich bekannt gewesen sein, dass sich Walter Benjamin ebenfalls spätestens in den 1930er Jahren mit dem 1836 zum ersten Mal publizierten apologetischen Robespierre-Aufsatz des zusammen mit Georg Forster fast einzigen deutschen Jakobiners Carl Gustav Jochmann[16] beschäftigt hatte, auf den er in seiner 1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlichten Einleitung zum Abdruck von Jochmanns Schrift Die Rückschritte der Poesie zu sprechen kam[17].

Gertrud Kolmars Schwester Hilde Wenzel und ihre Freundin Hilde Benjamin haben beide getrennt voneinander unterschiedliche Gedichte und Prosa der Kolmar gesammelt, versteckt, gerettet und überliefert. Viele Manuskripte und Abschriften, die ihre Schwester sammelte, erreichten diese über den Umweg ihres in Berlin verbliebenen Mannes, des Buchhändlers Peter Wenzel. Alle drei waren mit einer poetischen Hellsicht von der Qualität dieser Gedichte, für deren Überlieferung sie einiges aufs Spiel setzten, überzeugt.

Hilde Benjamin ist später als besonders unerbittliche Justizministerin der DDR bekannt und berüchtigt geworden. Das Schicksal ihres Mannes Georg (Bruder von Walter Benjamin), eines kommunistischen Arztes im Berliner Norden, seine Verhaftung im Jahre 1933, seine illegale Arbeit nach seiner Freilassung und seine erneute mehrmalige Inhaftierung in Zuchthäusern und KZs und seine schließliche Ermordung im KZ Mauthausen im Jahre 1942[18], dürfte nicht nur Anregung zu Kolmars Gedichtzyklus gegeben haben, sondern einer der privatgeschichtlichen Antriebe für Hilde Benjamins rachsüchtigen Rigorismus in der Verfolgung von Regimegegnern in der späteren DDR gewesen sein; ihr sozialistischer Tugendterrorismus war von Robespierreschem Format, verbrämt mit stalinistischer Ideologie. Ihr Schwager hatte, indem er die Rache zum historischen Movens der Befreiung erklärte, in der zwölften seiner Thesen Über Begriff der Geschichte erklärt: “Die (kämpfende, unterdrückte) Klasse verlernte in dieser Schule [jener der Sozialdemokratie, die sich darin gefallen habe, der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen] gleich sehr den Haß wie den Opferwillen. Denn beide nähren sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.“[19] Was Georg Benjamin der Opferwille war, das war seiner Frau Hilde der Hass – Walter Benjamin zählte beides zur „besten Kraft“ der Arbeiterklasse. Ob sich auf dieser Basis eine demokratische Gesellschaft gründen ließe, in der die Freiheit desjenigen, der anders denkt als die nun herrschende Arbeiterklasse resp. als die nun herrschende Partei, die sich zur alleinigen Repräsentantin dieser ehemals geknechteten Klasse aufwirft, darf bezweifelt werden. Legitimationen zur Rache an den ehemals herrschenden Gesellschaftsklassen und damit auch zu einer proletarischen Klassenjustiz gegenüber renitenten Vertretern von deren Ideologie inmitten einer staatssozialistischen Ordnung ohne Meinungsfreiheit hätte sich Hilde Benjamin allemal aus solchen Überlegungen holen können. Der Literaturhistoriker Hans Mayer, der beide, Walter und Hilde Benjamin gekannt hatte, schrieb über letztere: „Sie wußte, daß ich Benjamin in der Pariser Emigration gekannt hatte, sprach mit Anteilnahme von dem großen Denker, der gleich seinem Bruder am Dritten Reich zugrunde ging. Dies alles gehört zu ihrem Bild. So viel Leid, das man erlebt und erlitten hatte wegen der Abstammung und der eigenen Meinung. Der Antifaschismus der DDR als einer ‘antifaschistisch-demokratischen Ordnung‘ war für Hilde Benjamin ein seelisches Postulat. Man mußte fertig werden mit dem, was man damals unter dem Signum Faschismus erlebt hatte. Härte gegen Härte. Auch so kann man seelisch zugrunde gehen; auch so verwandelt man Recht in Unrecht.“[20]

Gertrud Kolmars empathische Neigung, sich mit den Opfern zu identifizieren, die sich auch schon in dem Gedichtzyklus Das Wort der Stummen niedergeschlagen hatte, wurde nun gegenüber den verfolgten Juden, aus einem schwer erfindlichen Schuldbewusstsein heraus, immer mehr zur treibenden Kraft nicht nur für ihre Dichtung, sondern auch für ihre reale Lebenseinstellung und -führung. Die Juden – sie wurden immer mehr zu „ihrem Volk“, dessen Schicksal sie sich in seinen tiefsten Erniedrigungen bis hin zur Vernichtung ergeben wollte; sogar aus einem schwer verständlichen inneren Zwang heraus ergeben musste, als hätte sie damit einen früheren Verrat zu sühnen. Hier versagen alle rationalen Erklärungsversuche. Sie wurde zur Zwangsarbeit in einer Kartonagefabrik eingezogen; sie bejahte diese harte Arbeit als eine Art kathartische Selbstkasteiung und war stolz darauf, sie besser als manche Männer zu ertragen, schlug alle Warnungen und rettenden Angebote in den Wind und ließ sich am 27. Februar 1943 bei der so genannten Fabrik-Aktion, bei der die letzten jüdischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter im Innern des Reiches verhaftet und direkt in die Vernichtungslager deportiert wurden, abführen. Sie ging letztlich, so könnte man ihr Verhalten deuten, willentlich und sehenden Auges in den Tod, als fühlte sie sich dazu vorherbestimmt. Im „32. Osttransport“, dritter Großtransport direkt von Berlin nach Auschwitz, zusammen mit etwa 1500 Frauen, Männern und Kindern wurde sie in einem gedeckten Güterwagen am 2. März vom Güterbahnhof Moabit abtransportiert. Der 3. März gilt als ihr Todesdatum.

[1] Walter Benjamin wird nicht nur Gedichte seiner Cousine in der Zeitschrift Literarische Welt (1928, mit einer von ihm formulierten Vorbemerkung) und in der Schweizer Rundschau (1929) veröffentlichen lassen, sondern auch noch 1934 vom Ausland aus mit ihr brieflich korrespondieren und sie bei dieser Gelegenheit zu einigen autobiografischen und poetologischen Bekenntnissen animieren, die heute fast das einzige Selbstzeugnis Kolmars über ihre Art zu dichten darstellen. Siehe G. Kolmar, Briefe, hg. Von Johanna Wortmann, Göttingen 1997.

[2] Siehe Hugo Friedländer, Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung. Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Jüngstvergangenheit, Prozess wider das Grafen-Ehepaar Kwilecki wegen Kindesunterschiebung, Berlin 1911, publiziert auch im Internet unter www.zeno.org/Kulturgeschichte/M/Friedländer,+Hugo/Interessante+Kriminalprozesse.

[3] Hilde Wenzel, Gertruds Ahnen, Vaters Familie, erstmals abgedruckt in und hier zitiert nach: Johanna Wortmann, Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Göttingen 1995, Dokumentenanhang, S. 303. Nach Auskunft von Wortmann sind Hilde Wenzels Aufzeichnungen „Vaters Familie“ zusammen mit „Mutters Familie“ (Schönfließ) und einem fragmentarischen Bericht über Gertruds Leben bis 1918 unter dem Titel „Meine Schwester Gertrud“ die Bruchstücke einer geplanten und nur fragmentarisch überlieferten „Chronik einer jüdischen Familie“.

[4] Dieter Kühn, Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Zeit und Tod, Frankfurt/Main 2008, S. 15.

[5] Beatrice Eichmann-Leutenegger, Gertrud Kolmar. Leben und Werk in Texten und Bildern, Frankfurt/Main 1993, S. 35. In dieser Chronik befinden sich auch die meisten der bisher veröffentlichten erhalten geblieben Fotos von Ludwig (die frappante Ähnlichkeit mit Wilhelm II. ist sichtbar auf S. 80 und: zu Pferde auf S. 49) und Gertrud Chodziesner.

[6] Ebd., S. 301.

[7] Gertrud Kolmar, Eine jüdische Mutter, Frankfurt/Main Berlin 1981, S. 91.

[8] Sie schreibt in den Jahren 1933–35 einen zusammengehörigen Komplex: zunächst den apologetischen Essay Das Bildnis Robespierres (in: G. Kolmar, Das lyrische Werk, hg. von Regina Nörtemann, Bd. 3: Anhang und Kommentar, Göttingen 2003, S. 19–52), dann den Gedichtzyklus Robespierre (in: G. Kolmar, Das lyrische Werk, Bd. 2, S. 391–475) und schließlich das Schauspiel Cécile Renault (in: G. Kolmar, Die Dramen, hg. von Regina Nörtemann, Göttingen 2005, S. 5–95), in denen sie in eine Art von revolutionärem Mystizismus verfällt.

[9] Siehe Das Wort der Stummen, das ist ein von Hilde Benjamin (der Frau von Kolmars gefangen gehaltenem Vetter Georg Benjamin, zu der Gertrud Kolmar bis kurz vor ihrer Deportation intensiven Kontakt hatte) geretteter und von ihr 1978 in der DDR veröffentlichter Gedichtzyklus aus dem Jahre 1933, auch enthalten in: G. Kolmar, Frühe Gedichte/Wort der Stummen, München 1980 und: G. Kolmar, Weibliches Bildnis. Sämtliche Gedichte, München 1987 und: G. Kolmar, Das lyrische Werk, Göttingen 2003. Das Manuskript dieses Zyklus liegt im Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (ACJ).

[10] Gertrud Kolmar, Welten, geschrieben in der zweiten Hälfte des Jahres 1937, posthum veröffentlicht in Berlin 1947, hg. von Hermann Kasack (auch enthalten in: G. Kolmar, Das lyrische Werk, München 1960 und: G. Kolmar, Weibliches Bildnis. Sämtliche Gedichte, München 1987 und: G. Kolmar, Das lyrische Werk, Göttingen 2003).

[11] Wolfdietrich Schnurre, Zweifel und Hinnahme. Gertrud Kolmar zum Gedächtnis, in: Gelernt ist gelernt. Gesellenstücke, Berlin 1984, S. 52.

[12] Siehe hierzu auch Abraham Huss, Zum Bildnis Robespierres bei Gertrud Kolmar, in: Widerstehen im Wort. Studien zu den Dichtungen Gertrud Kolmars, hg. Von Karin Lorenz-Lindemann, Göttingen1996, S. 88‑104.

[13] Zu der gehörten besonders die damals neueren Forschungen der linken Historiker Albert Mathiez und George Lefebvre, französisch 1922‑27, die Kolmar nachweislich gelesen hatte.

[14] Friedrich Sieburg, Robespierre, Frankfurt/Main 1935, S. 107, Stuttgart 21958 und München 31963, S. 88, dort mit den verschärfenden Eingangssätzen: „Der gefährlichste Mensch ist derjenige, der nur eine einzige Idee hat. Robespierre ist ein solcher Mensch.“ Vgl. auch die Einleitung von Carlo Schmid zu Maximilian Robespierre, Ausgewählte Texte, Hamburg 1971, 21989.

[15] Ganz im Gegenteil nahm Sieburgs Entwicklung einen fast schon vorhersehbaren Gang, ablesbar an seiner Rede 1942 vor der groupe collaboration in Paris. Sie hatte den Titel France, d’hier et demain, und in ihr bekannte er sich als Nationalsozialist und versuchte die Franzosen für die neue Ordnung “kosmischen“ Ausmaßes ‑ repräsentiert durch das kriegführende Deutschland ‑ zu gewinnen. Es handele sich um die Wahl zwischen der vom Völkerbund, den „Juden, Marxisten und Freimaurern“ vertretenen Idee der Menschheit und den nationalen, sprich völkischen Interessen. Es ist Sieburgs Variante des Kampfes zwischen den „Ideen von 1789“ und einer auf dem Rassegedanken gegründeten Ordnung. (Mit Dank an Lutz Winckler für diesen hier in seinen Worten wiedergegebenen Hinweis.) Kolmars Hinwendung zu den Ideen der Französischen Revolution in den 1930er Jahren würde man wohl nicht missverstehen, betrachtete man sie als einen Widerstand gegen die nationalsozialistische Ideologie.

[16] Siehe C. G. Jochmann, Die Rückschritte der Poesie und andere Schriften, hg. Von Werner Kraft, Frankfurt/Main 1967, S. 83‑121.

[17] Siehe Walter Benjamin, Einleitung zu C. G. Jochmann, Die Rückschritte der Poesie in: Zeitschrift für Sozialforschung 8 (1939), S. 92‑103, wiederabgedruckt in: W. B., Angelus novus. Ausgewählte Schriften 2, S. 352‑65.

[18] Siehe Hilde Benjamin, Georg Benjamin. Eine Biographie, in der Reihe: Humanisten der Tat. Hervorragende Ärzte im Dienste des Menschen, Leipzig 31987.

[19] Walter Benjamin, „Geschichtsphilosophische Thesen“ / Über den Begriff der Geschichte, in W. Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/Main 1961, S. 275. Es scheint mir zwar heikel aus Benjamins in dieser letzten seiner Schriften komplex zusammengestellten Gedankengängen, die einen gewaltigen Denkakt unter erneutem Einschluss theologischer resp. messianischer Traditionen darstellt, ein Zitat herauszubrechen. Dennoch könnte es nicht unnütz sein, einmal partikulare Gedanken aus Benjamins Konglomerat heterogener Elemente auf ihre Tauglichkeit hin zu prüfen, indem man nach ihren politischen Konsequenzen fragt.

[20] Hans Mayer, Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt/Main 1991, S. 159.