Das Leichte gebührend ernst genommen – zur Freiburger Inszenierung von Weills “Love Life”

Es kommt darauf an, die U-Musik gegen ihre unheilbaren Verächter zu verteidigen und sie gegenüber ihren Verherrlichern deutlich zu kritisieren.

Von Thomas Ziegner

 

Groucho Marx ist dabei. Copyright Birgit Hupfeld, Theater Freiburg

Herrlich sarkastisch singt im großen Freiburger Love Life Schlussbild ein Chorsänger in der Maske des Groucho Marx von der alten Malaise zwischen Mann und Frau und den Fährnissen der Ehe. Und wie in den avanciertesten Produktionen der Marx Brothers, beispielsweise “Duck Soup”, 1933 (auf deutsch erst 1967, “Die Marx Brothers im Krieg”) hat Weills Librettist Alan Jay Lerner es verworfen, einen Plot nach tradiertem Musical-Muster zu basteln: Also keine Liebesgeschichte mit Glück, Pech und komischen Schwierigkeiten und dem obligaten Happy End. Lerner schrieb von einem Paar, das rund 150 Jahre US-amerikanischer Geschichte erlebt, dabei nie altert und sich trennt. Ob die einstmals Liebenden wieder zueinander finden, bleibt offen.

Dass sie damit 1948 für den Broadway etwas ziemlich Neues geschaffen hatten, war Weill und Lerner sehr wohl bewusst, und sie bereiteten das Publikum mit einem kleinen Drei-Personen-Mini-Drama darauf vor, das sie am 3. Oktober 1948 in der New York Times publizierten:

Vor dem Shubert-Theater in Boston stehen Weill und Lerner und genießen die frische Luft, als ein Mann vorbeikommt und Auskunft über das Stück begehrt, das dort gespielt wird, “Love Life”. Der Passant ist ein wenig verwirrt, als er erfährt, dass das als “Vaudeville”, also Nummern-Revue  angekündigte Werk eine Handlung habe. Als er hört, dass diese Handlung über 150 Jahre geht, und das Hauptdarsteller-Paar in diesem Zeitraum nicht altert, wird der potentielle Kartenkäufer nervöser, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Weill, inkognito, erklärt, als wäre alles ganz leicht:

“Eine Szene ist ein Musical, eine ist eine amerikanische Ballade, eine ist pure Komödie, eine ist Satire, eine wird getanzt, eine ist musikalische Komödie, eine ist Schauspiel. Alles unterschiedliche Stilarten.”

Nach weiterem Hin-und-Her ist der Passant überzeugt. Sein Schlusswort:

“Das muss ich sehen! (Er geht zur Kasse,  um eine Karte zu kaufen. Lerner und Weill schütteln sich die Hände und gehen die Straße hinunter.)” *

Als das erfolgreiche Werk abgesetzt wurde, waren Weill und Lerner schon mit anderen Projekten beschäftigt. Infolge unglücklicher Umstände konnte keine Tonaufnahme erstellt werden. Weill starb 1950. Sein Musical-Vaudeville oder Vaudeville-Musical wurde vom Publikum vergessen, von Künstlern aber hochgeschätzt. Es beeinflusste die Gattung der Broadway-Concept-Musicals wie “Cabaret”. Im Dezember 2017 endlich erlebte es seine deutsche Erstaufführung in Freiburg, zu danken vor allem dem Freiburger Chefdramaturgen Rüdiger Bering und dessen Mitarbeitern und der Kurt Weill Foundation for Music, die eine neue kritische Love-Life-Ausgabe erstellte. Bering übersetzte die Texte, ziemlich elegant wohl und geschmeidig (soweit man sich das ohne Kenntnis des Originals zu sagen trauen darf: sämtliche Kritiken der Inszenierung, einschließlich unserer eigenen, stehen unter Vorbehalt: Die kritische Ausgabe ist bisher weder im Buchhandel noch im internationalen Bibliotheks-Leihverkehr erhältlich).

Aber noch einmal zurück zum New-York-Times-Mini-Drama: Hatte Theodor W. Adorno, der Philosoph der Neuen Musik, Soziologe und Komponist, der Weills Dreigroschenoper- und Musik emphatisch begrüßt hatte, es vielleicht gelesen und seine Schlüsse daraus gezogen? Gut ein Vierteljahrhundert nach der Dreigroschenoper-Premiere (1928 in Berlin), 1955, schrieb er:

Der Ausdruck, den unmittelbar zu geben er (Weill) zurückscheut, wird durch die scharfen und überwachen Ohren Weills aus dem Schema von ‘Gesang und Tanz’ zu einem Gemisch aus gefällig Amüsantem und schmerzhaft Beschädigtem destilliert. Ihm wurde das Paradoxon einer Musik zuteil, die das Publikum elektrisiert und doch all den Publikumsansprüchen ins Gesicht schlägt, die sie selber erfüllt.” **

Der unentschlossene Passant ahnt ja schon, dass ihn nichts Stereotypes erwartet; glaubt aber dennoch mit einigem Recht, dass sein Unterhaltungsbedürfnis befriedigt werden mag. Ist dies nicht ein schönes Beispiel für Adornos Wort vom “Paradoxon einer Musik, die das Publikum elektrisiert und doch all den Publikumsanspüchen ins Gesicht schlägt, die sie selber erfüllt?”

Man hat, meines Erachtens nach kurzsichtig, Adorno den knappen Essay über Weill “Nach einem Vierteljahrhundert” übel genommen und als gegen den Komponisten der Dreigroschenoper gerichtet (miss)-verstanden. Aber, bittschön, welch größeres Kompliment ließe sich einem Künstler denn machen als:

“Kraft dieser Paradoxie erzittert das Bild musikalischer Kultur wie eine wacklige Kulisse. Zwischen den beiden Polen des gespaltenen musikalischen Bewusstseins zündet es. Heute, da die Kruste des Daseins abermals sich verhärtet hat, ist das Bedürfnis nach solcher Zündung wieder erwacht.”

Und einer der wenigen, die die Zündung zwischen den Polen E (ernste) und U (Unterhaltung, kommerzielle) Musik bewirken konnten, war Weill. Dies von Adorno, dem Kompositions-Schüler Alban Bergs und Autor der “Philosophie der Neuen Musik”.

Nicht alle umstandslos auf “Love-Life” (übrigens auch auf “A Touch of Venus) anzuwendenden Erkenntnisse Adornos über Weill können hier entfaltet werden. Bleiben wir bei den Produktionsbedingungen der Freiburger Inszenierung, die aus dem Fundus der Forschungen von Joel Galand im Auftrag der Weill Foundation schöpfen konnte. Chefdramaturg Bering hatte das Werk im Jahr 2000 schon einmal halb-szenisch in Berlin aufgeführt und wählte es für seine Startsaison in Freiburg.

Aus dem Interview Rüdiger Berings (RB) mit Redakteuren des Kurt-Weill-Newsletters (KWN):

KWN: Sie haben erste Mal im Jahr 2000 an Love Life gearbeitet. Was reizt Sie an dem Werk?

Rüdiger Bering, Chefdramaturg Theater Freiburg, Copyright Theater Freiburg

RB: Ich habe es im Jahr 2000 genossen, Love Life zu übersetzen und zu bearbeiten. Ich habe den Reichtum an Inhalten und an Humor besonders in Weills versatiler Musik entdeckt. Erst zwei Jahre später, als Harold Prince mir erzählte, dass Love Life ihn umgehauen hat, bemerkte ich, welchen  Einfluss das Werk hatte.Die halb-szenische Produktion 2000 an der Universität der Künste in Berlin begriffen wir als ersten Schritt zu einer voll inszenierten deutschen Erstaufführung. Ich habe dieses einflussreiche und außergewöhnliche “Vaudeville” von Kurt Weill – einem in Deutschland geborenen Komponisten, der das amerikanische Musical stark beeinflusst hat – nie vergessen. Als ich erfuhr, dass ich Teil des neuen künstlerischen Teams am Theater Freiburg mit seinem exzellenten Orchester sein würde, war einer meiner ersten Gedanken, Love Life dort zu inszenieren.

KWN: Siebzehn Jahre später: Wie nützlich war diese erste Begegnung mit Love Life?

RB: Sehr nützlich, vor allem weil es klar wurde, dass Love Life nicht veraltet ist; die Herausforderungen können bewältigt werden. Die Reaktion von Theaterprofis und normalen Zuschauern war enthusiastisch und anregend. Eine der größten Tugenden unserer halb-szenischen Version war ein schnell bewegter, leichtfüßiger Stil mit schnellen Szenen- und Stimmungsänderungen von den Familienszenen zu den Varieté-Acts und zurück. Diese Leichtigkeit ist wesentlich für die Magie und den Charme, den unsere Produktion in Freiburg haben soll.

KWN: Sie werden im nächsten Herbst die Dramaturgie in Freiburg übernehmen, und eine der ersten Shows wird das fast unbekannte Love Life sein. Ist das nicht riskant?

RB: Ich bin mir sicher, dass Love Life das größte Aufsehen unter den in unserer ersten Staffel geplanten Werken hervorrufen wird. Es wird eine unserer prestigeträchtigsten und teuersten Produktionen sein. Wir sind sehr gespannt, wie es aufgenommen wird; ich glaube nicht, dass dass das Risiko zu groß ist.

KWN: Wie wollen Sie eine siebzig Jahre alte Broadway-Show einem deutschen Publikum von heute nahebringen?

RB: Es wird unsere wichtigste Aufgabe sein, ein Gleichgewicht zwischen unserem Respekt für die ursprüngliche Arbeit von 1948 und einem zeitgemäßen Ansatz zu finden; Ich denke, wir sollten problemlos zwischen damals und heute wechseln. Wir müssen kein zeitgenössisches Äquivalent für jedes Detail finden. Zum Beispiel liebe ich die Szene, in der Sam und Susan und die Kinder darüber streiten, welches Radioprogramm eingeschaltet werden soll: 1948 haben sie nur ein Radio und müssen es teilen; das wäre heute ziemlich anders. Ich glaube, dass das Publikum den Kontrast genießen wird. Und weil es bei Love Life darum geht, wie sich die Familienbeziehungen über die Jahrzehnte verändert haben, können wir darüber nachdenken, was seit 1948 passiert ist.

KWN: Allgemeiner, wie nähert man sich Love Life heute? Braucht es grundlegende Änderungen, um verständlich zu sein? Welche Ideen haben Sie, damit es auf der Bühne funktioniert?

RB: Wir müssen über die bloß nostalgische Rekonstruktion hinausgehen. Klar, wir könnten unserem Publikum sagen, dass Love Life eine 1948 eine bahnbrechende Arbeit war – aber um die Zuschauer zu überzeugen und zu bezaubern, müssen wir eine mitreißende, inspirierende und großartige Show kreieren. Ich bin überzeugt, dass Weills Partitur dies auf musikalischer Ebene erreichen wird. Im Jahr 2000 spürte ich, dass das Publikum offen dafür war und sich sogar danach verlangte. Wird es 2017 genau so sein? Wir sind ziemlich zuversichtlich …

Eine große Herausforderung ist es, die Vaudeville-Tradition, die für Love Life fundamental ist, so umzuformen, dass das heutige Publikum etwas damit anfangen kann. Wir sollten dieses fast vergessene Genre so wiederbeleben, dass es Echos im kollektiven Gedächtnis unserer Zuschauer erzeugt. Aber wir sollten uns auch auf bekanntere Unterhaltung wie Filme oder TV-Serien  beziehen. Eine andere Frage wird sein, ob die Art, wie Sam und Susan Cooper interagieren, veraltet sein könnte. Ich glaube nicht, dass ihre Beziehung oder ihre Probleme unverständlich sind.

Es besteht eine gewisse Gefahr, dass eine Produktion von Love Life schwerfällig wird. Wir werden ein paar Striche machen müssen, damit die Show nicht zu lang wird und mehr Bewegungsfreiheit erhält.

KWN: Was können Sie über das Produktionsteam sagen ?

RB: Wir freuen uns Joan Anton Rechi als Regisseur zu haben; Wir haben mit ihm an einigen exzellenten Musikproduktionen gearbeitet und er hat in Freiburg einen guten Ruf. James Holmes, unser Musikdirektor und Dirigent, ist sehr erfahren im Musiktheater und unsere Treffen waren sehr inspirierend. Er hat bereits mit unseren beiden Hauptdarstellern zusammengearbeitet: Rebecca Jo Loeb, eine in Deutschland lebende amerikanische Mezzosopranistin, wird Susan Cooper spielen. Ihr Partner wird David Arnsperger sein, der das „Phantom“ und „Sweeney Todd“ an der Welsh National Opera unter Holmes spielte. Besser noch, er ist ein Lokalmatador, der seine Karriere in Freiburg begonnen hat. [Anmerkung der Redaktion: Loeb (Erster Preis, 2008) und Arnsperger (Zweiter Preis, 2010) sind beide Preisträger des Lotte Lenya Wettbewerbs.] Als Dramaturg werde ich gemeinsam mit James Holmes das Konzept und die Adaption erarbeiten und Joan Anton Rechi und ich werden während der Proben in engem Kontakt mit ihnen stehen.

 

KWN: Welche anderen Weill-Möglichkeiten sehen Sie am Theater Freiburg?

RB: Der Künstlerische Direktor Peter Carp und ich möchten einen “Weill Zyklus” etablieren. Wir wollen die Möglichkeiten des Theaters erkunden und ausweiten und einige “In-between” -Produktionen schaffen, die singen, schauspielern, tanzen kombinieren. Kurt Weill ist ein großer Vertreter eines solchen “totalen Theaters”. Wir diskutieren über Produktionen von Der Silbersee, Happy End, Die sieben Todsünden und Lady in the Dark.***

 

Das selbst gesetzte Ziel, weit mehr als eine nostalgische Rekonstruktion zu schaffen, hat das Freiburger Team erreicht. Insgesamt zustimmend, zuweilen hymnisch das Presse-Echo; ist in einigen Rezensionen von Kritik an der Traumfabrik Hollywood oder der Kulturindustrie die Rede, steht in anderen, die Inszenierung sei eine Liebeserklärung an Hollywood. Für beide Positionen gibt es durchaus Belege. Wie formulierte Adorno:

“Zwischen den beiden Polen des gespaltenen musikalischen Bewusstseins (E- und U-Musik, Th.Z.) zündet es”.

Tim Al-Windawe
Rebecca Jo Loeb
Copyright Birgit Hupfeld, Theater Freiburg

Die Liebe in der Schwebe gelassen: Deutsche Erstaufführung von Love Life in Freiburg:Unsere Rezension

*Kurt Weill, Musik und Theater, Berlin 1990, S. 151 ff

** Theodor W. Adorno, “Nach einem Vierteljahrhundert”, Gesammelte Schriften Bd. 18, S. 548 f

*** Kurt Weill Newsletter Spring 2017, S. 10; publiziert mit freundlicher Genehmigung der Kurt Weill Foundation for Music, NY.

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