Gratwanderungen ohne Absturz – Trio Kühn, Humair und Chevillon

Genau dafür wurde wohl der Jazz erfunden

One, Two, Free: Joachim Kühn, Daniel Humair und Bruno Chevillon in Tübingen

Gustav Mahler wurde einmal als achtarmiger Dirigent karikiert. Analog könnte ein Zeichner verfahren, um das polyrhythmische Drumming von Daniel Humair zu visualisieren. Sich überschneidende Metren, sich überlagernde, kollidierende, ineinander verschränkende rhythmische Muster: Er ist der Wunschpartner des Pianisten Joachim Kühn seit über fünfzig Jahren, wie Kühn dem Publikum am 20.10.18 im ausverkauften großen Saal des Sudhauses erzählte.

Als Zwanzigjährer in Leipzig (1964 also, d.Red.), DDR, hörte ich im Westfernsehen die Band von Roland Kirk“, sagte er, „und der hatte einen Schlagzeuger, von dem ich dachte, mit dem will ich einmal zusammen spielen. 1974 war es dann soweit“. Dritter im Bunde ist Bruno Chevillon, vorgestellt mit einigem Recht als „Weltmeister am Kontrabass“. Es hat halt auch eine sportive Anmutung, mit welcher Nonchalance er auf dem relativ sperrigen Instrument noch raschen Presto-Läufen des Klaviers folgt, überdies einen großen Artikulationsraum eröffnet. In manchen Passagen, wohldosiert, erzielt er fast haptische Effekte, macht er hörbar, dass der Kontrabass aus Saitendraht und Holz besteht, akkordisch gespielt und perkussiv genutzt werden kann.

Epilog der Hoffnung

Kühn selbst ist unverwechselbar nicht nur wegen seiner nervös-filigran flirrenden 128stel Figuration der rechten Hand im Diskant, die man, wollte man sie in Notenschrift umsetzen, auch als aufzulösenden Cluster notieren könnte. Wie neben ihm nur noch Cecil Taylor hat er pianistisch den zeitgenössischen Jazz geprägt. Seit er 1969 bei den Berliner Jazztagen, damals noch unter der Leitung von Joachim Ernst Berendt, seine Huldigung an Ellington uraufführte – „Suite To Our Father Duke“ – hat er mit nur wenigen Unterbrechungen unermüdlich oft unvergessliche musikalische Räume zwischen durchkomponierten Strukturen und freien Improvisationen erschlossen.

Dass seine schöpferische Imaginationskraft unversiegt ist, bewies er im vom Jazz im Prinz Karl Team veranstalteten, knapp zweistündigen Sudhaus-Konzert. Unter anderem schrieb er , während eines Krankenhaus-Aufenthalts, den „Epilog der Hoffnung“, der sich Zustände von Mattigkeit unter Einfluss von Schmerzmitteln zu beschreiben nicht scheut und daraufhin das allmähliche Erwachen frischer Kräfte feiert. Die Assoziation an Beethovens „Heiligen Gesang des Genesenen an die Gottheit in lydischer Tonart“ kann nicht als bloß bildungsbürgerlich, nicht nur Sache gehörig abgetan werden. Man höre mal rein.

Genau dafür wurde der Jazz erfunden

Ansonsten: Bislang Unerhörtes, halsbrecherisch scheinende Gratwanderungen oder besser Gratrasereien ohne Absturz zwischen Freiheit und Bindung, Integration und Desintegration; in Intention und Wirkung verwandt dem tags darauf in in Donaueschingen – dort war Kühn zuletzt 1973 zu Gast: es wird Zeit, ihn wieder einmal einzuladen – uraufgeführten „Resilienztraining“ von Eduardo Moguillansky. Resilienz nämlich, Widerstandskraft gegen schematisch-vorgegebene Metrik und Harmonik, zeichnen Kühns Stücke und sein Spiel aus, emphatisch das Prinzip der Individuation repräsentierend.

Genau dafür, ließe sich leicht überspitzt formulieren, wurde der Jazz erfunden. Naturgemäß kann so improvisieren nur, wer wie Kühn einen souveränen Überblick über die Tradition hat. Das wurde (nicht nur) in der stürmisch geforderten Zugabe deutlich. Mehrmals klang die originelle Harmonik und das scheinbar zögernde Spiel von Thelonious Monk an, die Raffinesse von Bud Powell, sogar die Sparsamkeit von Count Basie oder die entspannte laid-back Spielweise von Erroll Garner. Mit diesem Konzert dürfte der Tübinger Verein Jazz im Prinz Karl seine nächste gute Plazierung im Ranking des New Yorker Downbeat-Magazins gesichert haben.

Thomas Ziegner