Meyer Wolf Weisgal: Der Mann, der Reinhardt, Weill und Werfel nach New York holte (1)
Von Thomas Ziegner
Ansteckend war seine Begeisterungsfähigkeit. „Er kann nicht ruhig ins Zimmer kommen. Er bricht herein wie ein Lavastrom. Wenn Weisgal kommt, steigt die Temperatur im Raum beträchtlich, und wenn er geht, hat sich der Raum mit Drama, Begeisterung und Interesse gefüllt“, schrieb Nahum Goldmann, der Präsident des jüdischen Weltkongresses. (1) Als Sohn eines Chasen (Kantors) wurde Meyer Wolf Weisgal 1894 im polnischen Schtetl Kikl (oder Kikol) geboren. Seine temperamentvolle Stiefmutter Lodzia sympathisierte mit den sozialistisch orientierten Bundisten, die revolutionäre Untergrundtätigkeit seines Bruders Leybisch war ein Grund von mehreren, weshalb die Familie sich entschloss, nach Amerika auszuwandern. Weisgal war da zehn Jahre alt; seine Erinnerungen an die Überfahrt waren lückenhaft.
„Doch was alle diese Jahre mit besonderem Schrecken in meinem Gedächtnis haftengeblieben ist, war die Entlausungsprozedur in Bremen. Männer und Frauen wurden getrennt und mußten sich ausziehen. Nackt wurden wir in einen Raum gepfercht, etwa fünfzig oder hundert gleichzeitig. Die Dampfpfeifen begannen zu zischen, und wir wurden von einer dicken Rauchwolke geschluckt, während unsere Kleider ebenfalls ausgeräuchert wurden. Ich nehme an, dass diese sanitären Maßnahmen von der amerikanischen Einwanderngsbehörde verlang wurden. Aber was mir wie eine Narbe im Gedächtnis geblieben ist, war die Art, wie die Prozedur durchgeführt wurden: Die unpersönliche Tüchtigkeit der Deutschen, ihre Behandlung der Auswanderer wie Vieh, der absolute Mangel an jedem Gefühl für Menschenwürde. Jahrzehnte später, in den Tagen Hitlers und der Gaskammern, wurde diese Entlausung in Bremen bei mir wieder lebendig – wie eine prophetische Vorahnung oder eine Hauptprobe.“ (2)
Erste Station für die Auswanderer war die New Yorker Cannon Street, wo schon viele „Landsleit“ und alte Bekannte wohnten; ja, dem jungen Neuankömmling erschien die Wohngegend
„nicht das wahre Amerika, von dem ich gehört und taggeträumt hatte. Es war nur ein überfüllteres Kikl, mit der gleichen Sprache (Jiddisch, th.z.), dem gleichen Klatsch und den gleichen Menschen. Nur konnte man in Kikl auf die Wiesen ausweichen oder vielleicht sogar bis zum See…“ (3)
Nach einer kurzen Zwischenstation in der Caldwell Avenue erreichte den Vater Schloyme Chaim Weisgal das Angebot, als Kantor in Chicago zu wirken, an der Synagoge am Tell Place. Wie die meisten Enwandererkinder versuchte sich Meyer in verschiedenen Jobs. In Chicago verkaufte er Streichhölzer. Und Fliegenfänger. Es gibt ein Foto, das ihn als Verkäufer zeigt, gefertigt von einem Fotografen, der zu geizig war die Streichhölzer zu bezahlen und dafür das Foto anbot.
Lange dauerte auch der Aufenthalt in Chicago nicht. 1911 zog die Familie wieder nach New York, und Meyer trat in die Morris High School ein. Wieder hatte er nach der Schule Jobs. Mit dem Fahrrad lieferte er Bier- und Schnapsflaschen aus, und als er eines Tages auf den Fahrstuhl wartete, sang er eines der populärsten jiddischen Lieder: „Unter die grieninge Bejmelach“ (Unter den grünen Bäumen). Der Mann oben ließ ihn bis zur letzten Note singen und rief dann herunter: „Jingele, kum arouf“. Meyer betrat
„eines der elegantesten Häuser von Harlem, direkt am Central Park. Der Mann war Platon Brunoff, der Komponist dieses Liedes. Er drückte in schmeichelhaftesten Worten seine Bewunderung für mein musikalisches Talent aus, und ich trank seine Worte in vollen Zügen, vollauf überzeugt von seinen Fähigkeiten als Kritiker“.
Während er bei Brunoff weilt, wird dem jungen Sänger das Fahrrad samt Flaschen gestohlen. Er verliert seinen Job, kann dank Brunoff etwas Geld in einem renommierten Chor – „die Schul an der 116. Street und der Fifth Avenue, wo der unvergleichliche Yosssele Rosenblatt auftrat, war für die New Yorker Juden dasselbe wie die Metropolitan Opera für die übrige Bevölkerung der Stadt – verdienen und quittiert diese Stelle mit Einsetzen des Stimmbruchs. (4)
Viel Geschick zeigt er sodann als Gehilfe eines Pelzhändlers, der ihn mit 18 $ pro Woche auch außergewöhnlich gut bezahlt. Aber Meyer hatte inzwischen zwei Leidenschaften entdeckt. Erstens schrieb er gern,. Sein Erstlingswerk war ein Aufsatz über Shakespeares „Shylock“. Ein mental sehr beschränkter Mitschüler hatte ihn mit den immerzu wiederholten Worten provoziert „jüdischer Bastard“, sobald der Name Shylock fiel. Mindestens einen Monat lang schrieb der Schüler Meyer an seinem Essay, las viel, und ließ sein Werk sogar abtippen. Er brachte es dem Lehrer, und der sagte
„zu meiner Freude und Verwirrung: >Weisgal, lesen Sie es diesen Trotteln vor<, und zu der Klasse sagte er: >Denkt daran, ihr So-und Sos, dass sein Akzent nicht auf dem Papier steht<. (5)
Liebe zur englischen Sprache war bei Weisgal erwacht und eine starke Sympathie für zionistische Ideen. Rückblickend erklärt er:
„In allen gebildeten jüdischen Haushalten florierte das Interesse für >Bewegungen< und Ideale, in unserem offenbar noch mehr als in anderen.(…) Unser Haus war jahrelang so etwas wie ein 24-Stunden-Debattierklub, auch nachdem ich die Schule verlassen hatte.“ 67)
Zu debattieren gab es genug, und häufig waren viele Gäste da. Stiefmutter Lodzias Enthusiasmus für den Zionismus wurde „nicht gedämpft durch ihren Glauben an die Weltrevolution“, Bruder Leo (Leybisch) „blieb ein Radikaler, auch nachdem er eine erfolgreiche geschäftliche Laufbahn eingeschlagen hatte“, und der jüngste Bruder Emanuel „war Chef der >Young People’s Socialist League (YPSL)< in der Bronx während ihrer Blütezeit…“ (7)
Für viel Freiheit gibt Weisgal seine Stelle als Pelzprüfer auf, wo er immerhin 18 $ verdiente, und fängt für 4 $ die Woche im Büro der Zionist Organization of America bei dem berühmten Louis Lipsky als Aushilfe an. Lipsky, so erinnerte sich, sah „einen lebhaften, aggressiven, diskutierfreudigen jungen Mann, weder von Autorität besonders beeindruckt (…), frei im Gewirr der zionistischen Arbeit seine eigene Bestimmung zu formen“. (8)
Weisgal formte. Er war qualifiziert, er konnte sowohl Jiddisch wie Englisch sprechen und schreiben, er belegte einen Journalismus-Kurs an der Columbia Universität und war nach zwei Jahren vom Faktotum zum Chefredakteur aufgestiegen.
(Alle kursiv gesetzten Zitate aus Meyer W. Weisgal „So far, an autobiography, London 1971“)
(Contagious was his enthusiasm. „He is not a man to enter your room quietly (…) He bursts on you like a volcano. (…) The moment he enters a room the temperature rises considerably; until he leaves you it is full of drama, full of excitement and interest”, „Nahum Goldmann, president of the Jewish World Congress wrote. (1) The son of a chazan, Meyer Wolf Weisgal was born in 1894 in the Polish Schtetl Kikl (or Kikol). His spirited stepmother Lodzia sympathized with the socialist-oriented Bundists, his brother Leybisch’s revolutionary underground activity was one of several reasons why the family decided to emigrate to America. Weisgal was ten years old; his memories of the crossing were sketchy.
„But what has stuck in my mind with particular horror all these years was the ‘delousing’ process in Bremen. Males and females were separated and told to undress. Naked, we were herded in a room, t fifty or a hundred at a time. The steam pipes began to hiss, and we were swallowed in a thick cloud of steam, while our clothes were being similarly fumigated. I suppose that these sanitary measures were demanded by the American immigration authorities. But what left a scar on my memory was the way it was done- the grim efficiency of the Germans, their treatment of us like cattle, their utter lack of feeling for human dignity. Decades later, in the days of the Hitler holocaust and the death chambers, the memory of the ‘delousing’ process in Bremen came back to me, like a prophetic foreboding, a rehearsal. „ (2)
The first stop for the emigrants was New York’s Cannon Street, where many „Landsleit“ and old acquaintances used to live; yes, to the young newcomer appeared this residential area as not
„the real America, the America I had heard about or conjured in my day dreams. It was just a more crowded, more intensive Kikl, with the same language (Yiddish, th.z.), the same gossip, the same people. Only in Kikl you could escape to the the meadow or even as far as the lake.“ (3)
After a brief stopover on Caldwell Avenue, Father Schloyme Chaim Weisgal was offered the opportunity to serve as cantor in Chicago, at the synagogue on Tell Place. Like most immigrant children, Meyer tried various jobs. He sold matches in Chicago. And flypaper. There is a photo showing him as a salesman, made by a photographer who was too stingy to pay for the matches and offered the photo.
The stay in Chicago did not last long either. In 1911, the family moved back to New York, and Meyer entered Morris High School. Again he had jobs after school. He delivered beer and schnapps bottles by bicycle, and one day when he was waiting for the elevator he sang one of the most popular Yiddish songs: „Under the Griening Bejmelach“ (Under the Little Green Trees). The man above had him sing to the last note and then called down, „Jingele, kum arouf.“ Meyer entered
„one of the most elegant houses in Harlem, facing Central Park. The man was Plato Brunoff, the composer of the melody to which the words were set. He expressed, in the most extravagant terms, his admiration of my musical gifts, and I drank in his words blissfully, profoundly convinced of his gifts as a critic „.
While he is staying with Brunoff, the young singer’s bicycle and bottles were stolen. He loses his job, but thanks to Brunoff, he can earn some money in a prestigious choir – “The school at 116th Street and Fifth Avenue, where the incomparable Yossele Rosenblatt performed, was to the Jews of New York what Metropolitan Opera was, and still is, to the rest of the population…. (4)
He had to quit this job with the beginning of the voice mutation.
He shows a lot of skill as an assistant to a fur trader, who also pays him exceptionally well at $ 18 a week. But Meyer had discovered two passions by now. First, he liked to write. His first work was an essay on Shakespeare’s „Shylock“. A mentally very limited classmate had provoked him by muttering “Jewish bastard“ as soon as the name Shylock fell. For at least a month, Meyer worked on his essay, read a lot, and even had his work typed. He brought it to the teacher, and this one said
„to my delight and confusion: >Weisgal, read it to those morons, while to the class class he said: Remember, you so-and so’s, his accent is not on the paper.<“ (5)
Love for the English language had awakened at Weisgal and a strong sympathy for Zionist ideas. Looking back, he explains:
„In all literate Jewish homes, causes and movements flourished naturally; in ours, it seems, more than in others. (…) For years, our house was like a 24-hour debating club, even after I left school. “ (6)
There were enough to debate and many guests were often there. Stepmother Lodzia’s enthusiasm for Zionism was „not tempered by her belief in world revolution.“ Brother Leo (Leybian) „remained a radical even after he had a successful business career,“ and youngest brother Emanuel „was head of Young People’s Socialist League (YPSL) <in the Bronx during its heyday … “ (7)
For a great deal of freedom, Weisgal gives up his job as a fur examiner, earning $ 18, and starts working for the famous Louis Lipsky at the office of the Zionist Organization of America for $ 4 a week. Lipsky, he recalled, saw „a breezy, aggressive, argumentative young man, not particularly impressed by authority (…), free in the maze of Zionist work to shape his own destiny.“ (8)
And Weisgal did. He was qualified, he was able to speak and write in both Yiddish and English, he took a journalism course at Columbia University, and after two years he had risen from factotum to editor-in-chief.)
(All italics quotes from Meyer W. Weisgal „So far, an autobiography, London 1971“)
1 Meyer Weisgal at Seventy, London 1964, p 99
2 So far, an autobiography, London 1971, p 19
3 l.c., p 21
4 l.c., p 27
5 l.c., p 30
6 l.c., p 28
7 l.c. p 29
8 Meyer Weisgal at Seventy, p 53 f