Ein weiter Horizont: Deutsche Musik

Ein umfang- und gedankenreiches Handbuch von Friederike Wißmann

Wie affektive Zuneigung zum Objekt der Betrachtung dieser zugutekommen kann, zeigt sich in den allermeisten Kapiteln und Unterabschnitten des populärwissenschaftlichen Handbuchs, das die in Dresden lehrende Professorin Friederike Wißmann 2015 unter dem lapidaren Titel „Deutsche Musik“ vorlegte. Mögliche Missverständnisse übrigens, hier würde abermals der Chimäre von der „deutschesten der Künste“ (Thomas Mann) gehuldigt oder sonst ein nationalistisch-chauvinistischer Ton angestimmt, schließt die Autorin schon in der brillanten Einleitung aus.

Aber wie sonst auch sollte man ein dickes Buch benennen, das von in Deutschland oder deutschsprachigen Ländern wie Österreich komponierter, analysierter, interpretierter, aufgeführter und diskutierter Musik handelt? Kommode dekonstruktive Statements werden elegant abgeräumt: „Sollte „deutsche Musik“ ein Konstrukt sein, so ist sie trotzdem vorhanden, und zwar im Bewusstsein ihrer Hörer und Musiker“ (S. 9). In erfreulicher Kürze und Deutlichkeit wird der Begriff der Nation erläutert und Renan zitiert, eine Trouvaille in diesem Zusammenhang: „Nationale Einheiten als Konstrukt zu begreifen – diese Auffassung ist nicht Resultat postmoderner Diskurse, sondern wurde schon am Ende des 19. Jahrhunderts von Ernest Renan vertreten, der das „Dasein einer Nation“ in einem Vortrag an der Sorbonne als „ein Plebiszit Tag für Tag“ beschrieb und damit einem subjektiven Nationenbegriff Ausdruck gab: Was zählt, ist der Wille, eine Nation zu bilden“.

Friederike Wißmann, Deutsche Musik, Berlin 2015, 512 S.

Kaum werden in der deutschsprachigen populärwissenschaftlichen Musikliteratur derart kenntnisreiche und liebevolle Charakterisierungen einiger dem Durchschnittsleser wohl eher unbekannte Werke von Hans Werner Henze, Luigi Nono, Helmut Lachenmann und vielen anderen zu finden sein. Musikhistorischen Kontroversen des !9. Jahrhunderts wie der angeblichen Brahms-Bruckner-Polarität lässt Friederike Wißmann gleichsam die Luft raus, ohne sie zu verharmlosen. Die merkwürdige Geringschätzung Mendelssohns, die sich fast bis in unsere Tage fortfrettet, referiert sie und korrigiert sie ebenso überzeugend.

Rhapsodisch ist die Form: Die Autorin vermied es, sich von einem irgendwie gearteten streng geschnürten Kategorien-Korsett einengen zu lassen und wählte für die dreizehn Kapitel schlichte adjektivische Überschriften wie „Himmlisch“, „Gesellig“, „Widerständig“ oder „Komisch“. Unterabschnitte werden zur Vertiefung oder zu intelligenten Exkursen genutzt. Im Unterschied zu anderen Handbüchern wird auch die U- oder Popmusik samt Schlager und Heavy Metal behandelt.

Nicht alle Kapitel weisen die gleiche Sorgfalt auf, manchmal scheint die Autorin in Zeitnot geraten zu sein. Unangemessen, ja, fahrlässig scheint uns eine Bemerkung über Adorno zu sein (S.134; wir werden in anderem Zusammenhang ausführlicher darauf eingehen). Und natürlich fehlt viel, muss viel fehlen, weil das Buch leider nur rund 500 Seiten hat. Wenn manche Rezensenten und viele Leser bemängeln, dass etwas fehle, möchten wir nicht wortlos beiseite stehen, sondern ebenfalls auf eine allerdings beträchtliche Lücke hinweisen: Es fehlt ein Abschnitt über einen der bedeutendsten Komponisten Deutschlands, nämlich Hans Joachim Hespos.

Dennoch: Die Autorin hat sich was getraut, im Alleingang eine Gesamtschau zu liefern. In keiner Bibliothek, auch in keiner privaten, sollte ihr Buch fehlen. Unschätzbar wertvoll dürfte es überdies für Schulen und Musikinstitute sein.

Gerhard Jung / Thomas Ziegner

Zusatz am 13.5.2018: Vgl. die gedankenreiche Rezension von Peter Sühring:Zu “Deutsche Musik” im Infonetz-Musik