Konstruktives Ingenium, enorme Klangphantasie: Zum Orchesterstück “Ramal” von Kareem Roustom
Keine Vorrede, keine umständliche Einleitung: „Energico“ lautet die erste Vortragsbezeichnung, rhythmisch reizvoll zischt das Orchester-Tutti los. Die rhythmische Formel – Wechsel von betonten und unbetonten Schlägen in krummen Taktarten, wie sie ähnlich Bartók liebte – gab dem Stück den Titel: „Ramal“, ein traditionsreiches, schon in präislamischen Zeiten verwendetes Versmaß, das auch noch in manchen Passagen der Erzählungen der Scheherazade (1001 Nacht) vorkommt.
Überaus spannend entfaltet der 1971 geborene Kareem Roustom den Verlauf, die Tempi und die Farben. Bis auf den Titel deutet nichts auf arabisches Kolorit; die wenigen Figurationen, denen eine orientalische Affinität zuzuschreiben wäre, könnten ebensogut aus beispielsweise den rumänischen Tänzen von Bartók hergeleitet werden. Tempo und Wucht haben die ersten Abschnitte, laden weniger zur Kontemplation ein als vielmehr zu (reflektierter) Praxis.
Balancen: Gebrochen wird der appellative Gestus durch nachdenkliche, zuweilen wie trauernde Züge, artikuliert von tiefen Streichern, aparten Bläsermischungen und ingeniös eingesetztem Schlagwerk – Roustom sind hier Sounds geglückt, die so noch nie zu hören waren, gipfelnd in einigen Takten, in denen die lauthals klagende vox humana mit rein instrumentalen Mitteln beschworen wird. Besonders deutlich wird eben seine enorme Klangphantasie in diesem „Subito misterioso“ Abschnitt; vorzüglich der Einsatz von Röhrenglocken, Harfe und danse macabre Momenten des Xylophons. Zart scheint, für einige wenige Takte die klingende Allegorie des liebenden Menschenpaars in all dem Tumult auf, Mann und Frau, Violin- und Flötensolo.
Gewidmet ist das 2014 entstandene Werk dem Andenken an den Literatur- und Kulturwissenschaftler Edward Said, namentlich dessen einflussreichem Großessay „Orientalismus“, der für die Debatte des Postkolonialismus in den internationalen Kultur- und Gesellschaftswissenschaften außerordentlich fruchtbar war. Said kritisierte unter anderem die europäischen Projektionen im Blick auf die arabische Welt und ihre Geschichte.
Objekt solcher Projektionen oder Missverständnisse könnte „Ramal“ und sein Komponist selbst immer noch werden. Die Lokalpresse (siehe unten) tendiert jedenfalls dazu, ihn kurzerhand als arabischen Komponisten zu bezeichnen, mit der Betonung auf arabisch, statt richtiger als US-amerikanischen Komponisten mit arabischem Vater, und daher besserem Zugang zur Musik aus diesem Raum. Roustom scheint mit westlicher Musik und ihrer Tradition jedenfalls mindestens so vertraut zu sein wie seine europäischen Kollegen. Manchen dürfte er überlegen sein.
Der Autor hörte das Stück in den Proben (für neue Werke lädt die Württembergische Philharmonie Reutlingen dankenswerterweise zu einem „Entdeckerabend“ ein), der Generalprobe und schließlich im Konzert am 3. Dezember 2018 unter der Leitung des vorzüglichen Dirigenten Fawzi Haimor.
Übrigens: die lokale Presse in Tübingen und Reutlingen versagte weitgehend. Purer Nonsens stand im Tübinger Blatt, wie, Roustom sei im arabischen Raum „verwurzelt“. Nein, ist er gerade nicht. Entscheidende Jahre seiner Jugend lebte und arbeitete und hörte er in den USA, musste sich den Zugang zur Musik des arabischen Raums erst erobern. (Überhaupt wird mit der „Wurzel“-Metapher viel Unfug getrieben. Der Mensch ist doch kein Gemüse, kein Salatkopf). Nur zirka 5 Prozent ihrer Zeilenzahl widmet die wackere Lokal-Kritikerin der Reutlinger Erstaufführung, den Rest dem hübschen Fagottkonzert von Weber und der 152. Wiederholung einer Tschaikowksy-Sinfonie. Sapienti sat.
Thomas Ziegner