Zum hundertfünfzehnten Geburtstag von Albert Drach 17. Dezember 2017
Gegenwärtiger Stand der Rezeption: unbefriedigend
Reinhard Schulte, 1992: „Sollte einer die Dramatiker deutscher Sprache nennen, deren Stücke die dunkle Geschichte des Jahrhunderts auf dem Theater erkennbar gemacht haben, könnte es dem Betreffenden einfallen zu sagen: Wedekind, Kraus, Brecht, Horváth, Drach. Vier der fünf Namen müssten nicht kommentiert werden. Daß es im Fall des Büchnerpreisträgers Albert Drach einer Erklärung zu bedürfen scheint, beruht auf dem einer solchen weit mehr bedürftigen Umstand, dass, im Unterschied zu einem Teil des Prosawerks, das dramatische Korpus dieses Dichters – vierzehn Stücke in drei Bänden waren 1965 – 1972 immerhin erschienen, wenn auch längst nicht alle – seit vielen Jahren vergriffen ist und von den deutschen Theatern so gut wie nicht gespielt wird. Der Mehrzahl dieser Stücke – das früheste dürfte siebzig Jahre alt sein – steht die Uraufführung noch bevor; das nach dem zweiten Weltkrieg entstandene ungeheure Schauspiel „Das I“, das Stück über die Ermordung und das weitere Leben des jüdischen Volkes sowie über die deutschen Mörder und andere Beteiligte und Unbeteiligte, scheint, wiewohl seine Aufführung das Wichtigste gewesen wäre, was dem deutschsprachigen Theater nach 1945 hätte widerfahren können, nie realisiert worden zu sein. Ist es das Krausdeutsch, Worte, „so scharf, daß sie durch gepanzerte Hirnschalen in die entlegensten Hohlräume eindringen“ (Das Satyrspiel vom Zwerge Christian, S. 100), was zur Verleugnung zwingt ? So zwar, dass wir Deutschen über alles mit uns reden lassen, aber nicht in diesem Ton ? Wenn eines Tages die Kenntnis diese Oeuvres kein zufälliges Privileg mehr ist, wird der gegenwärtige Zustand als monströs erscheinen. Bis dahin hilft kein Betteln um Gehör, eher die keineswegs kühne Behauptung, daß das deutschsprachige Theater sich wieder einmal ums Beste betrügt, und bei Gelegenheit die Ohrenprobe, dergestalt daß eins der Bücher aufgeschlagen wird und vorgelesen.“
(Reinhard Schulte: Albert Drach und sein Theater, Tübingen 1993, S.119)
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Interview mit dem Tübinger Privatgelehrten Reinhard Schulte
15. Dezember 2002
Die Fragen stellten Ines Klank-Rießen und Thomas Ziegner
kultura-extra: Drach hat viele Fragen gestellt, vermeintliche Gewißheiten nachhaltig (verzeihen Sie das Modewort) erschüttert. Hat Drach auch Antworten gegeben?
Schulte: Er war ein Autor, der in fast naiver Weise geglaubt hat, mit seinem Werk und Wort lehren zu können. Zu den Stücken, die damals (1993) vorgetragen worden sind – er wollte zugegen sein, wollte bei den Zuhörern sein, die er selber optisch und akustisch nurmehr schattenhaft wahrnahm – hielt er im Anschluß kurze Ansprachen, in denen seine Überzeugung zum Ausdruck kam, daß die Hörer von seinen Stücken etwas für ihr Leben lernen können.
Reinhard Schulte, Foto: Ines Klank-Rießen / red, 15. Dezember 2002
Wer nun erwartet hat, daß das etwa Lehren von dem Abstraktionsniveau seien, daß man die Hoffnung nie aufgeben soll oder ähnlich, der stellte mit Verblüffung fest, daß Drach an etwas viel Einfacheres dachte. Er hat nämlich ausgeführt, daß im „Satansspiel vom Göttlichen Marquis“ de Sade in einer bedrängten Situation – das Todesurteil sollte an ihm, der in der Bastille inhaftiert war, innerhalb der nächsten Stunden vollstreckt werden, und seine Aufgabe war es, sich irgendwie noch vorher aus dem stark befestigten und militärisch geschützten Gefängnis zu befreien – eine Dachrinne beantragte zur Verrichtung seiner Notdurft, die er zweckentfremdet verwendet hat, nämlich um sich durch eine Luke im Gemäuer an die in kleinen, ungeordneten, aufgeregten Haufen in diesen Tagen um die Bastille herumziehende Bevölkerung zu wenden und die Empörung zu schüren. (weiter – Interview mit dem Tübinger Literaten Reinhard Schulte)