Präziser Blick auf Mendelssohn

Heutzutage scheint die Erkenntnis weit genug verbreitet, dass vieles, was über Felix Mendelssohn (…) kolportiert wurde, falsch ist und möglichst schnell vergessen werden sollte. Es lohnte sich nicht einmal, daran auch nur negativ anzuknüpfen. Und so ist dieser kleine Beitrag zur Mendelssohn-Literatur davon geprägt, die besonders in Deutschland tiefsitzenden Vorurteile stillschweigend zu übergehen.

Peter Sühring

 

Von Arthur Lehmann

 

Das Schreiben über Musik, über die eigene Musik, ist eine der wesentlichen, kaum zu überschätzenden Determinanten für das Nachleben eines Komponisten; für das, was gesagt wird, gilt dies, vielleicht aber mehr noch für die Menge des Gesagten. Denn wer viel zu sagen hat, so eine alte Binsenweisheit, über den wird viel geredet. Manch ein Komponist hat das schon in jungen Jahren verstanden: Richard Wagner und Karlheinz Stockhausen waren die wohl erfolgreichsten Vertreter ihrer Zunft darin, vermöge ihres schriftstellerischen Werks die Deutungshoheit ihrer Musik nicht aus der Hand geben zu müssen.

Von Felix Mendelssohn Bartholdy, der ein bedeutendes und umfangreiches Briefkonvolut hinterlassen hat, sind so gut wie keine ästhetischen Maximen überliefert. Zur Folge hatte dies unter anderem, dass sein Werk gewissermaßen schutzlos interpretatorischer Willkür (etwa hinsichtlich seiner Position in der Musikgeschichte zwischen Klassik und Romantik) ausgeliefert war und ist – ein Schicksal, dass er – in diesem Maße – mit wenigen seiner komponierenden Kollegen teilt. Joseph Haydn galt zu Lebzeiten als einer der größten und einflussreichsten Musiker, aber schon bald nach dem Tod heftete man ihm zählebige Etiketten an („Papa Haydn“). Doch Haydn wie Mendelssohn werden – ein wenig überspitzt gesagt – von den Kennern nach wie vor mehr geschätzt als von den Musikliebhabern. Welche Folgen das hatte, verdeutlicht Alfred Einsteins Satz aus dem Jahr 1941: „Er [Mendelssohn] ist heute einer der unbekanntesten Musiker der Vergangenheit“; dabei dachte Einstein hier an das amerikanische Musikleben jener Zeit, nicht einmal an die komplette gleichzeitige Verdrängung von Mendelssohns Musik unter der nationalsozialistischen Diktatur.

Peter Sühring: Felix Mendelssohn
Der (un)vollendete Tonkünstler

Peter Sühring, Autor zahlreicher Bücher und Beiträge zu musikalischen und literarischen Themen, geht es nicht in erster Linie darum, die zahlreichen Vor- und Fehlurteile über Mendelssohn zu benennen und zu korrigieren. Er möchte sie ignorieren zugunsten eines authentischen, unverstellten und entschlackten Blickes auf Mendelssohn (S. 8). In seiner Darstellung von Leben und Werk des Komponisten sollen nicht nur die bekannten Tatsachen referiert werden, sondern es sind die eher verschütteten Aspekte, um die es dem Autor geht (S. 7). Angesichts des knappen Umfangs des Büchleins musste eine Beschränkung stattfinden, die speziell in den Werkbesprechungen zu einer zwangsläufigen – aber auch gewollten – Vernachlässigung der eher bekannten Werke zugunsten weniger bekannter Werke und Werkgruppen führt (die, da sie bis heute ungedruckt blieben, kaum je aufgeführt werden). Demzufolge ist dieses sehr konzentrierte Büchlein aufgrund seiner Konzeption und Anlage weniger als Einführung gedacht: Der Autor hat eher den Kenner (und Liebhaber) im Blick.

Die beiden äußeren Hauptteile des Buches widmen sich dem Leben und dem Werk Mendelssohns; der Mittelteil ist ein Lebensbild zu den Aspekten Familie und Freunde, zu Reisen und zu Mendelssohns Verhältnis zum Judentum.

Des Autors Mendelssohn-Bild kündigt sich schon auf dem Buchumschlag an: Der Komponist ist dort mit seinem Geburtsnamen, nicht wie üblich, mit dem Taufnamen genannt.  Geboren als Felix Mendelssohn, wurde der Siebenjährige getauft; die Erweiterung um den Namensbestandteil „Bartholdy“ – so die gängige Lesart – erfolgte im Jahre 1822. Laut Peter Sühring geschah dies zeitgleich mit der Taufe, also 1816 (S. 10). Belegt wird diese Behauptung vom Autor nicht. Auch enthält das Buch keine Fußnoten; eine Literaturliste ist jedoch im Anhang zu finden. Die Namenssetzung (des Buchtitels) soll – so könnte vermutet werden – die jüdische Herkunft des Komponisten betonen. Dies weicht freilich von der Regel ab, möglichst den zuletzt benutzten Namen zu verwenden (wovon es begründete Ausnahmen gibt).

These: Von einer „Konversion“ Mendelssohns kann nicht die Rede sein

Das Kapitel „Mendelssohn und das Judentum“ ist eines der umfangreichsten Kapitel des Buches; der Autor überrascht hier mit der These, dass die vielbeschworene Konversion zum protestantischen Glauben gar keine gewesen sei: denn erst mit der Taufe habe die eigentliche religiöse Unterweisung eingesetzt. Eine Verleugnung der Herkunft Mendelssohns sei damit nicht einhergegangen, wie die Spuren im geistlichen Werk, den Psalmen oder dem Elias zeigen. Interessant in diesem Zusammenhang, dass Elemente jüdischer Musik, auch Klezmer, von einigen Autoren vermutet (S. 58), jedoch bislang kaum hinreichend belegt werden konnten.

Das „Jüdische“, nicht in seiner Musik, sondern in der Person des Komponisten, hat zu den übelsten Verleumdungen bis hin zur gänzlichen Unterdrückung seiner Musik in der Zeit des Nationalsozialismus geführt. Schon kurz nach dem Tode Mendelssohns tauchte der Vorwurf mangelnden Ausdrucks seiner Musik auf, verknüpft mit der Unterstellung, nicht über das lyrische Charakterbild hinausgelangt zu sein. Eine angebliche Kühle der Musik wurde mit der Kategorie des Klassizistischen gleichgesetzt, was später abwertend instrumentalisiert wurde. (Einem Nachklang dieses Stereotyps in Verbindung mit dem Vorwurf mangelnder Substanz konnte der Rezensent noch Mitte der 1980er Jahre in einem musikwissenschaftlichen Seminar begegnen!). Peter Sühring lehnt nicht nur aus diesem Grund Kategorisierungen wie die des Klassizismus entschieden ab (S. 61, 62). Unproblematischer ist es gewiss, Mendelssohn neben seinem Zeitgenossen und Freund Robert Schumann als deutschen Komponisten zu sehen (S. 59, 75). Ob Klassifizierungen, wie sie der Autor in der Musikwissenschaft beklagt, grundsätzlich negativ konnotiert sein müssen, darf man durchaus bezweifeln, denn Schlagworte („Klassik“, „Romantik“) sind häufig doch mehr als nur Grenzzäune, sie können den Blick auf den Gegenstand schärfen.

Der dritte Hauptteil des Buches vermittelt einen Überblick über Mendelssohns breit gefächertes Werk. Neben Bemerkungen zur Poetologie und Ästhetik in Mendelssohns Werk werden die unterschiedlichen Gattungen einzeln besprochen. Keineswegs möchte der Autor einen Konzertführer verfassen (dazu ist auch kein Platz vorhanden), er setzt den Fokus dafür auf einzelne signifikante Werke – und vermeidet es keineswegs, Problematisches anzusprechen; das Oratorium „Elias“ (S. 69-72), die Konzertouvertüre „Das Märchen von der schönen Melusine“ (S. 81) und die Reformationssinfonie (S. 83-84). Die bekanntesten Werke, darunter die Italienische und die Schottische Sinfonie werden gelegentlich gestreift, das Violinkonzert e-Moll nur erwähnt (die Absicht des Autors war es ja, sich dem Marginalen, Vergessenen und Verdrängten zuzuwenden).

Aufforderung: Die Musik Mendelssohns neu und offen zu hören

Ein großes Verdienst von Peter Sührings Schrift ist das auf den ersten Blick für manchen Leser wohl eher unscheinbare Werkverzeichnis, doch es ist das einzige chronologische Werkverzeichnis zu Mendelssohns musikalischen Werken und allein dadurch eine große Bereicherung des Buches (Werkverzeichnisse sind häufig systematisch, nach Gattungen, aufgebaut, gelegentlich nach Opusnummern oder nach noch anderen Kriterien). Es zeigt frappierend auf, wie der Komponist schon in den allerersten Jahren kompositorischer Tätigkeit die meisten Gattungen bedient hatte (S. 60). Vom 15-Jährigen liegen mehrere Bühnenwerke und allein 13 Sinfonien vor (neben den 12 Streichersinfonien immerhin die erste „gültige“ Sinfonie). Erstaunlich, wie in den nur 28 Schaffensjahren etwa 750 Werke entstanden (d.h. pro Jahr um die 25 Kompositionen – die Einzelstücke der „Lieder ohne Worte“ und andere Werksammlungen jeweils einzeln gezählt). Und ab dem 16. Lebensjahr entstehen Werke, die zu den bleibenden des Komponisten zählen. Der Autor gibt die zu Mendelssohns Lebzeiten vergebenen Werknummern in Klammern an, die späteren gar nicht; er plädiert dafür, die posthumen Werknummern zu ignorieren (S. 90). Berechtigt ist das deshalb, weil die Opuszahlen bei Mendelssohn kaum etwas über die zeitliche Einordnung des betreffenden Werkes aussagen – abgesehen davon, dass ein großer, nicht publizierter Teil des Oeuvres aus der Zählung gänzlich herausfällt –, doch seit dem Erscheinen des Werkverzeichnisses der „Leipziger Ausgabe“ vor knapp 10 Jahren beginnen sich dessen MWV-Nummern langsam aber stetig einzubürgern.

Das flüssig zu lesende und schön gestaltete Buch lebt von der langjährigen Beschäftigung des Autors mit seinem Gegenstand. Eine Apologie soll die Schrift nicht sein, meint der Autor zu Beginn seiner Schrift eher bescheiden, ein Plädoyer aber ist sie doch geworden, nämlich die Aufforderung, die Musik Mendelssohns neu und offen zu hören.

Sühring, Peter: Felix Mendelssohn. Der (un)vollendete Tonkünstler – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2018. – 98 S. (Jüdische Miniaturen ; 227)

ISBN 978-3-95565-285-2 : € 9,90 (kt.)