Ist der Hyper-Realismus ein Sous-Realismus? Zur Ausstellung „Almost Alive“ in der Kunsthalle Tübingen
Es gibt Kunst und Galeriekunst. Ed hat Kunst gemacht. Meistens jedenfalls.
Der Sammler Monte Factor über Edward Kienholz
Wunderbar hat Kunsthallen-Chefin Nicole Fritz die rund dreißig Werke gestellt, die sie unterm freilich nicht ganz unproblematischen Titel „Almost Alive – Hyperrealistische Skulptur in der Kunst“ versammelt hat. Den Treppenaufgang zur ersten Zwischenteage beherrscht der riesige „Ordinary Man“ des serbischen Künstlers Zharko Basheski. Erkennbar ist es nicht der „Common Man“, dem in der New Deal Ära in den USA unter Präsident Roosevelt der Komponist Aaron Copland mit einer Hymne huldigte. Hier bricht ein Typ durch, garnicht spektakulär bös ausschauend, dessen Physiognomie ihn als Demonstranten gegen ein unfähiges oder korruptes Regime ebenso identifizierbar macht wie als Wähler von Orban, Erdogan, der AfD oder Trump. Er reckt sich gerade, bald wird er agieren können.
Rechts oben hängt der Halb-Torso einer Athletin, deren leuchtend gelber BH ihr neben dem Riesen Aufmerksamkeit sichert (daneben: zwei Besucher). Der Titel „Almost Alive“ trifft nur auf ganz wenige Exponate zu. Farbe und Faktur, Form und schiere Größe der meisten Werke lassen allenfalls die Verwandtschaft zu Richtungen erkennen, die das mimetische oder illusionistische Moment stark gewichten.
Für den fast fünf Meter langen Säugling, den begeistert die Bild-Zeitung abbildete, wird man das Attribut „almost alive“ ebensowenig beanspruchen dürfen wie für die drei mit dem faschistischen Gruß aus der Wand ragenden Arme („Ave Maria“) von Maurizio Cattelan. Gerecht wird der Titel noch am besten dem „Body Builder“ von Duane Hanson, der mit der Kunstfertigkeit eines Wachsfiguren-Herstellers arbeitete, weniger ein Individuum als ein Exemplar der Gattung body-builder schuf. Ohne übrigens sie irgend zu denunzieren. Die gelegentlich zu lesende Beschreibung vom erschöpften, durch seine angeblich dumme Aktivität schier apathisch gewordenen Athleten dürfte mehr die Projektion dünnarmiger Intellektueller sein. Aber Projektionen sind ja für die Kunstbetrachtung- und Kritik unerlässlich.
Fast lebendig -almost alive – wirkt auch ein surrealistisch anmutendes Werk: Niedlich wie ein Püppchen liegt da, schlafend, ein Kleinstkind, und beim Nähertreten entdeckt man, dass es ein putziges kleines Elefantenrüsselchen statt der Nase besitzt. Surrealistisch inspiriert auch die Kleinskulptur „I’ve Got You Under My Skin – or anthropotechnoromantic infiltration“ – der erste Teil des Titel von einem Love-Song-Evergreen geborgt für die Darstellung eines Smartphones, das in die es haltende Hand eingewachsen ist von Marie-Eve Levasseur.
Starke Wirkungen haben einige der Werke, die das illusionistische Moment beispielsweise durch knallig-absurde Farbgebung konterkarieren, eine Art Sous-Realismus kreieren. Und zwei, vielleicht drei Arbeiten erreichen die Wucht, die viele Werke von Edward Kienholz auszeichnen, von dem die Ausstellung leider kein Exponat hat.
Thomas Ziegner
„Almost Alive“ – Hyperrealistische Skulptur in der Kunst, bis zum 21.10. in der Kunsthalle Tübingen
Kuratiert von Nicole Fritz, Kunsthalle Tübingen und Otto Letze, Institut für Kulturaustausch, Tübingen
Die brillante, instruktivee Rezension von Rainer Zerbst (hinzugefügt am 5.8.)