Wie über den Ersten Weltkrieg schreiben?

Kleine Poetik, exemplifiziert an Werner Bergengruens „Der erste Patrouillenritt“

 

Von Günter Scholdt

 

Die Textmenge, die Schriftsteller über den Ersten Weltkrieg verfasst haben, ist unübersehbar, selbst wenn wir uns nur auf Lyrik beschränken. Eine erste quantitative Vorstellung darüber vermittelt die frühe Bilanz des Kritikers Julius Bab zum Jahresende 1916, der bis dahin ca. 220 Kriegsanthologien rezensiert hatte. Rund 450 derartige Sammlungen erschienen im Deutschen Reich bereits im ersten Kriegsjahr. Bab selbst schätzte die damalige Tagesproduktion von Kriegsgedichten in einer Größenordnung von 50.000. Mit der Erstarrung der Front im Stellungskrieg und den ständig steigenden Todesraten ging zwar das Leserinteresse an solchen Versen allerdings erkennbar zurück. Auch galt – trotz beachtlicher Innovationen im Genre – für das Gros der Gedichte die Regel: Liest man eins, kennt man Dutzende.

Dergleichen lyrische Ramschware sucht man bei Bergengruen vergebens. Als positiven Beleg sei daher eines seiner Kriegsgedichte ausführlich vorgestellt, zumal es mir geeignet erscheint, exemplarisch poetologische Grundaussagen zu treffen. Zunächst einige biographische Rahmendaten: Zu Beginn des Ersten Weltkriegs studierte Bergengruen in Marburg. Er meldete sich freiwillig zur deutschen Armee, was für Balten trotz vielfacher Sympathien nicht gänzlich selbstverständlich war. Später provozierte er einmal seinen Vater mit der Bemerkung, er hätte es bei den Russen in der gleichen Zeit um zwei Dienstränge weiter gebracht. Wie ernstgemeint auch immer, deutet dies an, wie wenig er in engen nationalen Kategorien dachte.

Er diente zunächst bei den Dragonern, später als Leutnant bei den Ulanen und war ausschließlich an der Ostfront eingesetzt, zuletzt in der Ukraine. Seine besonderen Fähigkeiten qualifizierten ihn neben den üblichen Erkundungs- und Melderitten zu delikaten Funktionen, teils als vermittelnder Dolmetscher, teils als tollkühner Propagandist, der sich, mit Schnaps und Zigaretten bewaffnet, zu den russischen Linien begab, um Feinde zum Überlaufen zu bewegen. Vor seiner Flucht aus sowjetischer Gefangenschaft stand er sogar noch kurze Zeit als hochstapelnder Pseudoingenieur im Dienst der neuen Herrn. Januar 1919 traf er im revolutionären Berlin ein und begab sich umgehend zur Baltischen Landeswehr, die gegen die Rote Armee kämpfte.

Das Gedicht „Der erste Patrouillenritt“ entstand im Mai 1935 und erschien erstmals 1936 im Sammelband „Die Rose von Jericho“. Gutem philologischem Brauch gemäß, deutet man ein Werk, um seinen Wertungshorizont zu ermitteln, auch im Kontext der jeweiligen Epoche. Es liegt also nahe, themenverwandte Gedichte über den Ersten Weltkrieg zum Vergleich heranzuziehen und damit die Tradition zu skizzieren, aus der Bergengruen, wenn auch aus dem zeitlichen Abstand rund zweier Jahrzehnte schöpfte.

Seit Kriegsbeginn erschienen zahlreiche (häufig auch so betitelte) Reiterlieder, von denen hier ein halbes Dutzend gemustert werden soll. Sie stammen von seinerzeit hoch gehandelten Vertretern der Literatur. Wenn ihre Namen dem heutigen kulturellen Kurzzeitgedächtnis fremd geworden sind, bedenke man, dass dies auch den meisten aktuell Gepriesenen schon bald widerfahren dürfte. Damals gehörten sie immerhin zur Prominenz. Die Texte erweisen sich fast durchweg als Beispiele literarischer Schützenhilfe für die Front, wobei man die jeweiligen Kavalleristen als todbereite wie -geweihte Draufgänger feierte. So heißt es etwa bei Fritz von Unruh:

Ulanen, stolz von Lützow her

Mit Reitermut durchflogen,

Beleidigt ist die deutsche Ehr‘,

Auf! in die Schlacht gezogen.

 

Die Gäule raus, das Schwert zur Hand,

Die Welt braucht uns, Ulanen;

Wir stürmen frisch in Feindes Land

Und hol’n uns welsche Fahnen.

 

O Dasein, herrlich süßes Gut,

Jetzt lernen wir dich lieben:

Fürs Vaterland und deutsches Blut

Bist du dem Tod verschrieben. […]

 

Doch dieser Schwur sei ernst getan:

Wie Gott auch bläst die Flammen –

Wir Lützower steh’n auf dem Plan

Und hau’n die Welt zusammen.

 

Ein Dutzendprodukt damaliger Schlachtgesänge also des späteren Vorzeige-Pazifisten der Weimarer Republik, anfeuernd und relativ klischeehaft. Man darf es schnell wieder vergessen. Anspruchsvoller ist ein thematisch verwandtes Gedicht von Rudolf Alexander Schröder. Es imitiert im Rhythmus die Pferdegangart, arbeitet mit Assonanzen, Alliterationen, Anaphern und diversen Wortverschränkungen:

Wir reiten von Wäldern und Schluchten verborgen,

Wir traben hinein in den dämmernden Morgen,

Deutschland, Deutschland!

Es wiehert und stampfet der Scheck und der Schimmel,

Es klappert und trappelt der Hufe Gewimmel,

Rot leuchtet der Himmel.

Und deute die blutige Röte Verderben,

Für dich will ich leben, für dich will ich sterben,

Deutschland, Deutschland! […]

Und wähnen dich alle verfemt und verlassen

Mit Hassen und Lügen, mit Lügen und Hassen,  […]

Und wenn uns die Feinde mit Kugeln begaben

Und unter den Rossen die Reiter begraben,

Noch halten und haben

Ein Schwert und ein heilig Gelübde die Erben:

Für dich will ich leben, für dich will ich sterben,

Deutschland, Deutschland!

 

Im Mittelteil des Gedichts begründet der Verfasser den kavalleristischen Furor mit der psychologischen Kriegsführung der Entente, die Deutschland eine Art Kulturkampf aufzwang. Gerhart Hauptmann war darin gar als literarischer Protagonist verwickelt: als Kontrahent von Romain Rolland, dem er in der „Frankfurter Zeitung“ antwortete. Sein „Reiterlied“ ist vom gleichen Geist getragen. Als sein Sohn im Dezember 1914 eingezogen wurde, entstand ein weiterer lyrischer Kriegsbeitrag:

Komm, wir wollen sterben gehen

in das Feld, wo Rosse stampfen,

wo die Donnerbüchsen stehn

und sich tote Fäuste krampfen.

 

Lebe wohl, mein junges Weib

und du Säugling in der Wiegen!

Denn ich darf mit trägem Leib

nicht daheim bei euch verliegen.

 

Diesen Leib, den halt‘ ich hin

Flintenkugeln und Granaten:

Eh ich nicht durchlöchert bin,

kann der Feldzug nicht geraten. […]

 

Zu einiger Popularität gelangte auch das „Österreichische Reiterlied“ von Hugo Zuckermann:

„Drüben am Wiesenrand

Hocken zwei Dohlen –

Fall ich am Donaustrand?

Sterb ich in Polen?

Was liegt daran?

Eh‘ sie meine Seele holen,

Kämpf‘ ich als Reitermann. […] /

Drüben im Abendrot

Fliegen zwei Krähen –

Wann kommt der Schnitter Tod,

um uns zu mähen?

Es ist nicht schad‘!

Seh‘ ich nur unsere Fahnen wehen

Auf Belgerad!“

 

Der jüdische Verfasser fiel bereits 1914, so dass dem Gedicht etwas Testamentarisches anhaftet. Das gilt ebenso für sein Pendant auf preußischer Seite, Hermann Löns:

Heiß ist die Liebe,

Kalt ist der Schnee, der Schnee;

Scheiden und Meiden

Und das tut weh.

 

Rote Husaren,

Die reiten niemals, niemals Schritt;

Herzliebes Mädchen,

Du kannst nicht mit. […]

 

Das grüne Gläslein

Zersprang mir in der, in der Hand;

Brüder, ich sterbe

Fürs Vaterland.

 

Auf meinem Grabe

Soll’n rote Rosen, Rosen stehn;

Die roten Rosen

Und die sind schön.

 

Was die Texte thematisch verbindet, ist Patriotismus, Bejahung des Opfertods, alternativloser Abschied von Frau und Kind, zuweilen sogar eine gewisse Wurstigkeitspose dem Sterben gegenüber. Da die Hälfte der zitierten Autoren mit ihrem Leben bezahlten, verbietet sich retrospektive Besserwisserei. Literarhistorisch bemerkenswert erscheinen die Verse jedoch kaum, im Gegensatz zu Ernst Stadlers Gedicht „Der Aufbruch“, dessen programmatischer Titel zugleich seinem unter der Jahreszahl 1914 publizierten Lyrikband den Namen gab. Der Colmarer Autor hat es bereits im Dezember 1913 geschrieben, vermutlich ausgelöst durch diverse Marokko- oder Balkan-Krisen, welche die damaligen jungen Männer im Vorfeld des Ersten Weltkriegs immer mal wieder seelisch mit dem Ernstfall konfrontierten:

Einmal schon haben Fanfaren mein ungeduldiges Herz blutig gerissen,
Daß es, aufsteigend wie ein Pferd, sich wütend ins Gezäum verbissen.
Damals schlug Tambourmarsch den Sturm auf allen Wegen,
Und herrlichste Musik der Erde hieß uns Kugelregen.
Dann, plötzlich, stand Leben stille. Wege führten zwischen alten Bäumen.
Gemächer lockten. Es war süß, zu weilen und sich versäumen,
Von Wirklichkeit den Leib so wie von staubiger Rüstung zu entketten,
Wollüstig sich in Daunen weicher Traumstunden einzubetten.
Aber eines Morgens rollte durch Nebelluft das Echo von Signalen,
Hart, scharf, wie Schwerthieb pfeifend. Es war wie wenn im Dunkel plötzlich                                                                                           Lichter aufstrahlen.
Es war wie wenn durch Biwakfrühe Trompetenstöße klirren,
Die Schlafenden aufspringen und die Zelte abschlagen und die Pferde schirren.

Ich war in Reihen eingeschient, die in den Morgen stießen, Feuer über Helm
und Bügel,
Vorwärts, in Blick und Blut die Schlacht, mit vorgehaltnem Zügel.
Vielleicht würden uns am Abend Siegesmärsche umstreichen,
Vielleicht lägen wir irgendwo ausgestreckt unter Leichen.
Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken
Würden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt und glühend trinken.

 

Auch dem kosmopolitischen Stadler war also die zeitgenössische Denkfigur einer reinigenden Erneuerung vertraut, wie sie in aller Drastik 1914 etwa Thomas Manns „Gedanken im Kriege“ bekunden:

“Gräßliche Welt, die nun nicht mehr ist – oder doch nicht mehr sein wird, wenn das große Wetter vorüberzog! Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? […] Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte!”

 

Nicht zuletzt Expressionisten agierten, was Hermann Korte schlüssig belegt hat, zunächst weitgehend als Bellizisten, von Paul Zech, Rudolf Leonhard, Kasimir Edschmid und Alfred Döblin über Albert Ehrenstein, Wilhelm Klemm und Fritz von Unruh, Erst Barlach bis Ernst Toller, Walter Hasenclever oder René Schickele, dem Herausgeber der „Weißen Blätter“. Ihr Pazifismus-Image stammt aus späteren Konversionen und der Selbststilisierung in antimilitaristischen Anthologien, allen voran Kurt Pinthus‘ „Menschheitsdämmerung“. Yvan Golls Statement von 1921: „Kein einziger Expressionist war Reaktionär. Kein einziger war nicht ‚Anti-Krieg‘.“, bedient also eher ein beliebtes Klischee wie dem von der natürlichen Kriegsgegnerschaft der Frauen. Wenn das im Bewusstsein des Feuilletons teils noch immer ein wenig anders wahrgenommen wird, hängt dies mit gewissen metapolitischen Moden zusammen. Man tut sich schwer mit der Vorstellung, dass jene Literaturgrößen, die nach dem Umschwung den Neuen (brüderlichen) Menschen propagierten und den Soldaten ächteten, zuvor meist ganz andere Töne verbreitet hatten.

In Stadlers Gedicht artikuliert sich jene Generationsgemeinschaft, die der Wunsch nach radikalem Neubeginn beseelte. In der spezifischen Atmosphäre des (expressionistischen) Aufbruchs ist sein Gedicht dasjenige, das am engsten mit Bergengruens „Patrouillenritt“ verbunden ist. Gemeinsam sind Gefühle des Jungseins und vitalistischen Rauschs, der Feier des ungewöhnlichen Erlebnisses, das Mut erfordert, aber zur „Wandlung“ führt. Weitere Parallelen wie Besonderheiten mag die folgende Interpretation erbringen. Das Thema der Ballade Bergengruens verrät bereits ihr Titel: „Der erste Patrouillenritt“.

Jenen Morgen mag ich nicht vergessen,
Ein Septembermorgen war’s wie heut.
Noch im Dämmer sind wir aufgesessen,
Und ein fahles Licht war ausgestreut.

 

Ein Rekrut verwirrte mit den Hufen
Den im Klee verborgnen Fernsprechdraht,
Flüche wurden hinterdrein gerufen,
Dann verschlang uns der umbuschte Pfad.

 

Noch ein Brotstück fand sich in der Tasche,
Speck vom gestern erst gestochnen Schwein.
Aus der filzbezognen Sattelflasche
Trank ich fröstelnd den gebrannten Wein.

 

Zögernd öffnete ein Schein im Osten
Rötlich die verhangne Himmelswand.
Unsres Fußvolks vorgeschobne Posten
Fanden wir in feuchtem Uferland.

 

Und nach kurzem Fragen, kurzem Rasten
Überquerten wir den Wasserlauf.
In den Wäldern nach dem Feind zu tasten,
Brachen wir ins Unbetretne auf.

 

Stummes, ungesichtiges Gelände
Lag in Nebelgrau und Dämmerung,
Und wir trabten, Lanzen auf der Lende,
– Sieben waren wir und waren jung.

 

Ich fasse die Ausgangsszene zusammen. Das lyrische Ich, das im künftigen Vortrag relativ bedenkenlos mit dem Verfasser identifiziert wird, erinnert sich an seinen ersten Einsatz als Aufklärer zu Pferde. Die Stimmung entspricht der erwarteten gefahrvollen Konfrontation. Ein nebliger Herbsttag im Morgengrauen lässt die Soldaten frösteln. Nervosität zeigt sich, wird durch Alkohol gedämpft. Bald erreicht die Gruppe militärisches Niemandsland: das „Unbetretne“. Gefechtsbereitschaft wird hergestellt. Es beginnt das Abenteuer, das im Letzten seine Begründung findet im später wiederholten Kommentar „Sieben waren wir und waren jung“. Sieben gilt als Glückszahl, und auf einen entsprechenden Ausgang hoffen alle.

Warm und golden hob sich aus den Schneisen
Der septemberliche Sonnentag.
Einen Bussard sah ich droben kreisen,
Silbrig schimmerte sein Flügelschlag.

 

Hinter einem Busch von wilden Rosen,
Rot von Hagebutten überschmückt,
Fanden wir zwei leere Dörrfleischdosen,
Und das Gras war lagerhaft gedrückt.

 

Roßmist trafen wir und Pferdespuren,
Doch verloren sie sich bald im Moos.
Spechte hämmerten wie Totenuhren,
Und die Wälder schwiegen schwer und groß.

 

Neben Stoppeln schimmerten besonnte
Äcker mit noch ungeschnittner Frucht,
Und im Halbkreis stand am Horizonte
Unbewegt die blaue Tannenbucht.

 

Einmal sah ich einen Hasen hoppeln,
Einmal fiel ein Häherschrei ins Ohr,
Einmal zwischen Wiesengras und Stoppeln
Ging besorgt ein Hühnervolk empor.

 

Vor uns blaute die geheimnisschwere
Tannenwand in heißer Mittagsruh,
Und wir ritten auf die Waldlisiere
Weiten Abstands durch die Fläche zu.

 

Moderfeucht kam ein Geruch von Schwämmen
Zu mir durch den goldnen Mückentanz,
Und ich wußte: hinter jenen Stämmen
Liegt der Gott und der verborgne Glanz.

 

Der gelesene Abschnitt enthält vorausweisende Symbole für Schönheit und Gefahr. Genannt werden der kreisende Bussard, Spechtgeräusche, die an Totenuhren gemahnen, ein Häherschrei angesichts eines friedlich hoppelnden Hasen und besorgter Hühner, moderfeuchter Pilzgeruch, und im Gegensatz dazu reife Äcker im Sonnenglanz sowie „wilde Rosen / Rot von Hagebutten überschmückt“. Der Autor zeichnet aber keineswegs ein künstlich-ästhetisches Genrebildchen, sondern konfrontiert seine Leser als Kontrast umgehend mit leeren Dörrfleischdosen und Pferdemist.

Die Beobachtungen drängen sich ihm auf, in einer Phase verschärfter Wahrnehmung, die dem potentiell Bedrohlichen entspricht. Der Wald wiederum erscheint in einer poetischen Tradition aus Romantik, Expressionismus, aus Brecht oder Loerke, wird als „schwer und groß“, als unbewegte „blaue Tannenbucht“ veranschaulicht. Und hinter „jenen Stämmen“ heißt es: „Liegt der Gott und der verborgne Glanz.“ Wir befinden uns im mythisch-naturmagischen Bereich des Ominösen, das herausfordert, Ruhm und Ehre verspricht. Aus dieser ein wenig als verzaubert geschilderten Atmosphäre werden wir schlagartig herausgerissen durch den feindlichen Feuerüberfall:

Aus der Stille sprang ein Schuß und rollte,
Bis ein zweiter, dritter ihn verschlang,
Und das Feuer knatterte und grollte
Augenblicks den ganzen Wald entlang.

 

Jeder Baum gewann verruchtes Leben,
Feurige Dämonen heulten schrill,
– Vor sekundenlangem Augenheben
Stand der Himmel hoch und blau und still.

 

Unsre Pferde, rasch herumgerissen,
Galoppierten keuchend, Sprung an Sprung,
Kugeln schwärmten um uns wie Hornissen
– Sieben waren wir und waren jung.

 

Das militärische Geschehen wird zwar noch mit Dämonen assoziiert. Die weiteren Bilder bleiben jedoch im Alltäglichen: Schüsse rollen, knattern, grollen, schwärmen aus wie Hornissen, Pferde keuchen. Auffallend die Veranschaulichung des Himmels, der „hoch und blau und still“ stand. Der Ton gleicht ein wenig Brechts „Erinnerung an die Marie A.“, evoziert zudem die Vorstellung ewiger Erhabenheit, majestätischer Gelassenheit oder Distanz. Einen gewissen Abstand, den des gereiften Mannes, verrät auch der rückschauende Verfasser-Kommentar mit dem nochmaligen Verweis auf Jugend und entsprechendes Draufgängertum. Dies allerdings wird geradezu enthusiastisch beschworen:

Da wir durch die freie Fläche stoben,
Wind und Kugeln pfiffen hart am Ohr,
Hufe hämmerten und Pferde schnoben,
Und ich lebte – so wie nie zuvor!

 

Leben fühlt ich in den Adern kochen,
Leben hielt mir jeden Nerv geschwellt,
Leben, unbedacht und ungebrochen
Aus der großen Einigkeit der Welt.

 

Sternennächte, Schauer, Kindertage,
Tränen, Haß und Hingenommensein,
Frauenarme, wilde Zechgelage,
Tausend Ströme brausten überein.

 

Ja, ich lebte, daß mir in der Seele
Aller Saft der Schöpfung gor und schwoll,
Und ein Aufschrei sprang mir aus der Kehle
Heiß wie Brunstruf und des Rausches voll!

 

Mittenhin ins Ackerland verschlagen
Stand ein wilder Birnbaum, reich an Last,
Und ich riß mir im Vorüberjagen
Ein gefärbtes Blatt von seinem Ast.

 

Meinte alle Welt in ihm zu fassen,
Geister, Sterne, Pflanze, Stein und Tier.
Lachend habe ich es fallen lassen:
Fort das Blatt! Die Welt war heil in mir!

 

Dieser Abschnitt erweist sich als grandiose Feier des gerade in der Gefahr intensivierten Lebens. Die Weltliteratur kennt zahlreiche Werke, die das Hochgefühl besingen, knapp dem Tod entronnen zu sein und dies als Existenzsteigerung erfahren zu haben. Bergengruens sinnliche Schilderung kann es mit den besten aufnehmen. Und etliche Leser mit ähnlicher Erfahrung dürften zumindest für kurze Momente Vergleichbares empfunden haben wie der Patroullienreiter, der in symbolischer Geste das gefärbte Birnbaumblatt wieder wegwirft. Schließlich braucht er sich noch nicht mit dem Herbst des Lebens zu befassen. Ganz im Gegenteil:

„Leben fühlt ich in den Adern kochen,

Leben hielt mir jeden Nerv geschwellt“

 

Und weiter:

„Ja, ich lebte, daß mir in der Seele

Aller Saft der Schöpfung gor und schwoll“.

 

Darüber hinaus illustriert dieser Text Nietzsches Entwurf des „gefährlich leben“ als repräsentatives Jugendgefühl, das auch Stadler beschwor. Auch Thomas Manns „Zauberberg“ kennt solche Reize, jener Roman des Jahres 1924, mit dem sich der Verfasser von seiner Sympathie mit dem Tod verabschiedete und einer lebensbejahenden Zukunft unter den Vorzeichen Weimars zuwandte. Hierin findet sich als Bezugspunkt für Manns republikanische Utopie glücklich-friedlicher Sonnenkinder ein (allegorischer) Rekurs auf das schreckliche „Blutmahl“ des Krieges. „Waren sie“, heißt es, „so höflich und reizend zueinander im stillen Hinblick auf eben dies Gräßliche?“ Auch hier also eine lediglich anders akzentuierte Denkfigur, wonach das Erlebnis überstandener Gefahr zukunftsweisende Kräfte freisetzt.

In der viertletzten Strophe fällt dann ein Stichwort, das bei Bergengruen lebenslang eine zentrale Rolle spielte und das, bezogen auf das Schlachtengetümmel des Ersten Weltkriegs, aus explizit „progressiver“ Perspektive manchem als frivol oder provokativ erscheinen mag:

„Die Welt war heil in mir!“

Dieser Topos einer heilen Welt verdient auch insofern Beachtung, als er  durch gezielte Inkriminierung am meisten dazu beigetrug, Bergengruens Ruf zu ruinieren und den Autor zu dekanonisieren. Auf Adornos Attacke in „Jargon des Eigentlichkeit“ bin ich in einem früheren Vortrag eingegangen.[1] In diesem Zusammenhang  genügt es, auf zwei Erklärungsansätze zu verweisen: auf Bergengruens schon früh geprägtes Bewusstsein, vor gravierenden Übeln bewahrt zu werden, und die Überzeugung, dass die Schöpfung trotz aller Wirren und Leiden im Letzten unzerstörbar sei und der Mensch in einem höheren Zusammenhang geborgen.

Zumindest für den Autor selbst hat sich diese Annahme vielfach bestätigt, im konkreten Patrouillenritt dadurch, dass ihn die feindlichen Geschosse nicht trafen, wie ihm überhaupt im ganzen Weltkrieg eine Verwundung erspart blieb.

Auch im Dritten Reich bot dieses Grundgefühl einer gewissen Unverletzlichkeit beträchtlichen seelischen Halt. Von seiner Geborgenheit durch eine höhere Macht wird der Autor zeitlebens überzeugt sein, ja, von einem „Schutzengel“ sprechen, der ihn (nicht zuletzt bei militärischen Projekten) vor falschen Entscheidungen bewahrt habe. 1946 notierte er:

„VON NATUR hatte ich in jungen Jahren einen Hang zum unsinnigen Abenteuer. Als Student spielte ich mit dem Gedanken, mich als Freiwilliger nach Albanien zu melden, wo der Prinz Wilhelm von Wied eine Monarchie zu errichten […] trachtete. Nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte im Jahre 1918 dachte ich in Kiew daran, mich zum Parteigänger des von ihnen eingesetzten ukrainischen Hetmans […] Skoropadski zu machen. […] Aus der gleichen Zeit erinnere ich mich des halb kolonisatorischen, halb soldatischen Projekts einer Ansiedlung in Sibirien. Auch lockte mich ein Jahr später [] nach Japan zu gehen, wo, wie es hieß, ehemalige Offiziere der deutschen Armee gesucht wurden.

Alle diese Donquichotterien, […] hätten […] mit einem kläglichen Zugrundegehen enden können. Aber nun bin ich mein Leben lang immer vor den allerärgsten Unüberlegtheiten bewahrt worden. […] auch hier darf ich mit Dankbarkeit providentielle Behütungen erkennen.“

 

Kriege, Bürgerkriege und die beiden Großdiktaturen eignen sich im Allgemeinen zwar schlecht, diese Weltsicht historisch zu belegen. Aber was wäre eigentlich christlicher Glaube ohne solche Zuversicht? Bergengruen bestand auch in zwei anderen Soldaten-Gedichten darauf, dem gewaltsamen Sterben eine transzendierende Verheißung gegenüberzustellen. In seiner „Stimme des Gefallenen“ erreicht die tödliche Kugel bereits einen „Verwandelten“, und was dem als vernichtendes „Feuer erschien, war das Leuchten der Weltmonstranz“. Und im Gedicht „Die toten Soldaten“ wird eine lemurenhaft groteske Szenerie beschworen, in der die Gefallenen zu nächtlichem Spuk auferstehen, der gleichwohl in Trost und Bestätigung des Lebensplans mündet:

Morsches Männervolk hantiert mit Spaten,

Panzerfäusten oder Handgranaten,

andre wieder, finster und gelassen,

treten an, um Munition zu fassen.

Einer reckt sich, nach dem Feind zu sehen,

einer zeigt auf die erfrornen Zehen,

einer stopft sich die zerrissnen Socken.

Amputierte kauern und tarocken.

[…]

Andre hocken enge unter langen,

leeren Reden auf Latrinenstangen,

ächzend, aus zerfetzten Eingeweiden

blutige Ruhrfäkalien auszuscheiden.

Einer schleicht sich abseits voll Beklemmung,

einer kämpft mit einer Ladehemmung,

einer schießt, als schöss‘ er nach der Scheibe,

langsam, grinsend, wie zum Zeitvertreibe,

einer sackt, im Anschlag noch, zusammen.

Schüsse blitzen. Mündungsfeuer flammen.

Einer – plötzlich ist der Mond verglommen.

Alles ist zerstoben und zerschwommen.

 

Wunderliche blasse Blutgemeinde,

schlaft in Ruhe. Ihr seid nicht mehr Feinde,

uns nicht mehr noch irgendwem auf Erden.

Kehrt nun heimwärts. Friede soll euch werden.

 

Bergengruen kümmerten keine engherzigen Realismus-Gebote, wenn es um Glaubensverkündigung ging. Wer seine Prämissen nicht teilt, mag sie verwerfen. Aber ein literarisches Urteil berücksichtige bitte, dass wir im Bereich der Poesie nicht vornehmlich über Weltanschauungen zu rechten haben, sondern über ästhetische Plausibilitäten. Damit zurück zum „Ersten Patrouillenritt“: Die Strophen 23 und 24 steigern allerdings das Geborgenheitsgefühl des Reiters bis an die Glaubwürdigkeitsgrenze. Denn das Erlebnis vollzieht sich nun fast in einer den Krieg entproblematisierenden Traumwelt:

Überströmend tränkte mich die Quelle,
Die aus nie erschöpfter Tiefe rann.
– In der Deckung einer Bodenwelle
Hielt ich endlich meine Stute an.

 

Weißer Schaum stob flockig von den Zäumen.
Rings die Welt war mittagsschwül verstummt.
Und es war wie Täuschung, war wie Träumen,
Daß noch eben Kugeln mich umsummt.

 

Wo der Autor wie Kleists „Prinz von Homburg“ kaum noch Wirklichkeit und Traum unterscheidet, droht die Szenerie als historisches Geschehnis zu verschwimmen. So liegt die Frage nahe, ob es sich überhaupt noch um ein Kriegsgedicht handelt und nicht eher um einen quasi kosmologischen Text. Gegenstand wäre dann das pralle Leben unter Einbezug von Angst, Gefahr und Verlust, die jedoch in einem sinnvollen Ganzen verwoben sind. In diesem wie dem ursprünglichen Deutungsrahmen bleibt als Kernaussage, dass der Einzelne durch die mutig bestandene Ausnahmesituation eine gewaltige Daseinserhöhung erfährt. Insofern feiert der Autor Gefahr, Tapferkeit und männliche Bewährung in ideeller Nachbarschaft zu Ernst Jüngers „Das abenteuerliche Herz“, wenn er auch nicht zu dessen in der Weimarer Republik getroffenen politischen Folgerungen gelangt.

Für den gegenwärtigen pazifistischen Zeitgeist stellt sich daher die Standardfrage: Darf denn Bergengruen das? Darf er, ungeachtet von Massensterben und -leid, ein andersartiges Individualerlebnis besingen?

Darf er es zudem in einer Veröffentlichung 1936 in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang zur gerade wiedereingeführten Wehrpflicht? Darf er es gar noch 1946 in der Neuauflage des Bands, als alles Militärische noch stärker unter Rechtfertigungsdruck stand? Und wie legitimiert sich, dass Bergengruen in privaten Aufzeichnungen noch 1944 schrieb:

„So weit ich, meinen Jahren gemäß, auch über die Lebensformen einer jugendlich abenteuernden Aktivität hinausgewachsen bin, das Menschenbild des Soldaten, des Reiters, des Jägers, Studenten und Vagabunden wird mir immer nahe bleiben als der reinste Ausdruck der […] Morgenfrische und der unerschrockenen Bereitschaft zur Konfrontation mit dem Schicksal.“

 

Nähern wir uns unaufgeregt der Wertungsfrage, wobei folgende skizzenhafte Erörterungen natürlich nur Schlaglichter auf das Thema werfen! Zunächst einmal ist Kunst, die ihren Namen verdient, generell keineswegs harmlos oder eindimensional nützlich. Ihre Aussage erschöpft sich auch nicht in gesellschaftspolitischen Opportunitäten oder Wünschbarkeiten. Sonst wäre sie, „gut gemeint(e)“ Tendenzliteratur, wie Gottfried Benn spottete, d. h. ihr „Gegenteil“. Autonome Kunst geht nicht auf in ihren Zwecken, erfüllt nicht nur Ansprüche der Sittlichkeit, und seien diese fraglos berechtigt. Sie entfaltet sich erst im Spannungsfeld von Wahrheit, Schönheit und Ethik.

„Wahrheit“ respektive „Realismus“ heißt aber nicht nur, Krieg als schrecklich, sinnlos wie grausam zu zeichnen und nichtpazifistische Schilderungen als verlogen oder unkritisch zu denunzieren. Das alles mag häufig der Fall sein. Doch stellt sich Krieg, je nach Perspektive, konkretem Erleben und persönlichem Temperament, nicht für alle Teilnehmer gleichermaßen so dar, vor allem nicht ausschließlich. Auch hat Realismus nicht nur eine objektive (bzw. intersubjektive) Komponente. Wohlverstanden respektiert er vielmehr subjektive Eindrücke einzelner, sofern sie plausibel vermittelt werden.

Wer also um der volkspädagogischen Wirkung willen auf moralische Ausrichtung der Geschichte(n) beharrt, verletzt elementare künstlerische Freiräume, verpflichtet Schriftsteller auf politische Direktiven, zwingt sie in ihren Werken zu vorbildlichen Handlungen oder gesäuberten Wunschbiographien. Kurz: Er verwechselt im konkreten Fall Weltkriegs-Dichtung mit Friedenserziehung – zwei zuweilen benachbarte, aber gewiss nicht deckungsgleiche Projekte. Die erwartbare Folge heißt Niveauverlust, exemplarisch zu beobachten an der Gegenwartsliteratur, sofern sie ihr Interesse auf „finstere Epochen“ verlagert und dabei meist vorgegebenen Normen folgt, die Eintönigkeit und Sterilität bedingen.

Als Martin Walser in „Ein springender Brunnen“ einmal seine Jugend im Dritten Reich ohne die gängigen Buß- und Warnrituale erzählen wollte, hatte er sofort die Meute des Feuilletons auf seiner Spur. Es war ein lehrreiches Spektakel. Denn auch die Verfügungsmacht über das Erleben von Gestern will ständig behauptet sein. Die Erinnerung, meinte zwar Jean Paul, sei „das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können“. Aber nicht nur in totalitären Gesellschaften bemühen sich die „Eliten“ zunehmend, sich ihrer zu bedienen und sie (rigoros) zu steuern, zumindest wo Geschichts- und politische Weltbilder berührt sind. Da wird so Manches gesellschaftlich zensiert oder nach Auswahl vorgegebener Aspekte und Wertungen prämiert. Nicht umsonst klären erst Attribute wie „bürgerlich“, „poetisch“ oder „sozialistisch“ darüber auf, welcher Art von Wirklichkeitsausschnitt angesagt ist. Momentan tendieren unsere führenden Kritiker zum „Demokratischen“ oder „Humanitären Realismus“.

In dieser Lage beharrte Bergengruen darauf, ungeachtet spezifischer Wünschbarkeiten, die eigenen Erlebnisse den Lesern authentisch darzubieten und nicht emanzipationskompatibel stilisieren zu müssen. Es war schließlich seine Geschichte: wenn auch die eines relativ Privilegierten, unverletzt Gebliebenen, dem im Osten das industrielle Töten der Materialschlachten à la Flandern, Verdun und Somme weitgehend erspart blieb. In seinen Erinnerungen notierte er zuweilen sogar noch Ansätze ritterlicher Kriegführung. Insofern waren seine Erlebnisse von eingeschränkter, aber nicht aufgehobener Repräsentativität. Denn den Krieg schlechthin bzw. einen entsprechenden Realismus gibt es nicht. Und auch persönliche Eindrücke lassen sich nicht einfach normieren. Dies verdeutlicht Bergengruens (nur scheinbar unspektakulärer) Gedichtanfang, der seinen Standpunkt innerhalb einer kontroversen Moraldiskussion markiert: „Jenen Morgen mag ich nicht vergessen“.

Der Autor will es nicht, sieht keinen Anlaß dazu, und braucht gewiss keinen Vorwurf zu fürchten, mit einem Kriegsgedicht 1936 Konjunkturschreiberei betrieben zu haben. Hatte er doch soeben seinen Schlüsselroman „Der Großtyrann und das Gericht“ publiziert und mit ihm, für viele verständlich, seine regimekritische Haltung fixiert. Er war gerade jetzt zum Katholizismus konvertiert und setzte damit, zumindest im Bekanntenkreis, ein Zeichen. Er dachte nicht in Kategorien modischer Anpassung und änderte seine Wertentscheidung auch dann nicht, wenn er Missverständnisse durch aktuelle Politisierung befürchten musste. Er war als Autorentyp eigentlich in jeder Phase seines Lebens unangepasst und unzeitgemäß.

Indem ich diese Haltung ausdrücklich verteidige, rede ich gleichwohl keiner schriftstelleristischen Gleichgültigkeit das Wort, die mögliche Folgen ihrer Werke betrifft, keiner uferlosen Lizenz für Amoralisches oder sozialfeindliche Exzentrik, die vornehmlich des Effekts und der bloßen Entäußerung willen erfolgt. Auch sehe ich Autoren nicht gänzlich außerhalb der Verantwortung für jegliche Wirkung ihrer Texte, wo sie etwa werbend Lebensentwürfe präsentieren, die etwas Verrucht-Verführerisches enthalten. Dass dies für Bergengruen so nicht gilt, sei vorab versichert. Andererseits müssen Moral und Sozialprävention nicht knüppeldick serviert werden. Der pädagogische Zeigefinger war stets ein wenig künstlerisches Mittel der Einflussnahme. Und selbst auf den Weltkrieg bezogen, behält es ein Geschmäckle, wenn man dergleichen von Autoren verlangt und nachgerade als preiswürdige Norm dekretiert.

Damit zum Kriterium der Schönheit, ein Begriff, der sich bei Weltkriegstexten fast zu verbieten scheint. Vorprogrammiert ist der Konflikt mit Moral und Realismus, wo ein Autor ästhetisch ordnend eingreift, Sinn verleiht, wo andere nur eine absurde Folge von blutigem Chaos wahrnehmen. In der Tat, Bergengruen schafft poetisch Sinn, ordnet durch Symbole, stiftet per Metaphern Zusammenhänge zwischen realer und phantastisch-dämonischer Welt. Natürlich poetisiert er Sachverhalte, die durch gelungene Form zumindest in Teilen harmonisiert werden. Und eines gilt ganz gewiss als Norm: Schönheit darf nicht erkauft werden durch Euphemismen, Verzuckerung, Lüge.

Andererseits bleibt dem Autor das Recht, sein wie immer verlaufendes eigenes Leben als schön zu empfinden und Erinnerungen entsprechend zu gestalten. Er muss keiner allgemeinen Präventionsdidaktik folgen. Er darf sich über enge literaturpolitische Horizonte hinwegsetzen, auch wenn ihm Zeitgeist-Kritiker dafür höhere Weihen verweigern. Seine Tätigkeit braucht sich nicht in Kriegsprophylaxe zu erschöpfen, in Mustern à la Remarque respektive dessen Opfer-Perspektive. Dies umso mehr, als derartige politische Ansprüche stets stiegen und sich selbst mit der Ästhetik von „Im Westen nichts Neues“ zwischen Latrine und Lazarett noch nicht zufriedengaben. Denn zu Beginn der 1930er Jahre verfiel auch dieser Roman nach etlichen nationalistischen Attacken linksradikaler Kritik.

Kommunisten bemängelten die fehlende Klassenkampf-Perspektive. Diverse Autoren der „Weltbühne“, von Arnold Zweig über Edlef Köppen bis Karl Hugo Sclutius witterten bald (über Remarque hinaus) in fast schon jeder Episode, die nicht unmittelbar der Kriegsächtung diente, „Vergnügungskonfektion“ (Köppen:) oder im gekonnt veranschaulichten „Schrecken des Schützengrabens“ „Kriegspropaganda“ und „Romantik“ (Sclutius), die „immer für den Krieg“ sei. Wer so defensiv Wirkungen zu kontrollieren sucht, wird konsequenterweise jeder Formanstrengung misstrauen, jeder sprachlichen Ziselierung. Er landet bei der Psychologie oder Soziologie des engagierten Holzschnitts oder wird Texte verlangen, die sich in dokumentierten Todeslisten, Versehrten-Statistiken und endloser Reproduktion des blutigen Stumpfsinns erschöpfen und dabei vor allem eins sind: langweilig und unattraktiv. Welchem Anliegen damit geholfen wird, bleibe offen.

Doch abermals zur Frage: Darf man Krieg als Abenteuer schildern? Solche Fragen stellen meist Leute, die ihren Kindern die Cowboypistole verbieten oder, um ein kurioses Beispiel aus meiner Bekanntschaft zu nennen, den als „militaristisch“ verpönten Startschuss der Leichtathleten durch Händeklatschen ersetzen wollen. Was hier verwechselt wird, ist eine wünschbare soziale Haltung, die aus der Erduldung von Großkatastrophen der Welt Schlüsse zieht, und dem hilflosen Modellieren an menschlichen Neigungen. Und die Attraktion von Gefahr als Herausforderung, sie zu bestehen, gehört dazu. Für sie sind Kriegsfilme nur dann tolerabel, wenn sie zu „Antikriegsfilmen“ umettikettiert wurden, was gegenwärtig die leicht durchschaubare Regel ist. Im Übrigen spricht die geradezu exzessive Horrorwelle in Literatur und Film nicht eben dafür, dass Abenteuer-, Schock- und dergleichen Effekte in unserem so human definierten Zeitalter verschwinden. Sie werden nur verlagert oder anders kostümiert wie die Kriege, die aktuell nicht beerdigt, sondern, als Friedens- bzw. Menschrechts-Missionen getarnt, lustig weitergeführt werden.

 

Dabei schadet eine gelungene Kriegsdarstellung viel weniger als befürchtet, weil gute Literatur eben prinzipiell offen ist. Und natürlich darf man solche Schilderungen, wenn sich die Rezeption nicht darauf beschränkt, auch als Abenteuer lesen. Denn Krieg war (und ist) in Teilen gewiss Abenteuer. Er wurde 1914 nicht von allen, aber bemerkenswert vielen in Europa so empfunden, als „großer Urlaub“ von der Zivilisation, die – wie Freud diagnostizierte – „Unbehagen“ bereitet hatte. Bergengruens „Patrouillenritt“ steht im Umfeld von Texten, die uns solche Stimmung veranschaulichen und begreifen helfen. Und das war schon immer eine der Grundfunktionen von Literatur, ungeachtet möglicher schädlicher Wirkungen.

Die Realität zu amputieren, weil man jene fürchtet, ist keine tragbare künstlerische Lösung. Das Spannungsfeld zwischen literarischer Freiheit und sozialer Gefahrenabwehr darf nicht von vorneherein zugunsten der letzteren begrenzt werden. Vornehmlich dem mündigen Leser steht von Fall zu Fall die Entscheidung zu. Für den Frieden wirbt nicht, wer Massenstimmungen oder Tugenden wie Mut, Kameradschaftlichkeit, Standhaftigkeit usw. leugnet oder sich einem identifikatorischen Nachvollzug des Auslebens von Ausnahmesituationen verweigert. Wirkliche Aufklärung nimmt diese Befindlichkeiten ernst, zeigt aber zugleich die Kehrseite solcher persönlichen Bewährung.

Soweit zum Grundsätzlichen. Damit zurück zu Bergengruens Gedicht, genauer: zur letzten, einzig noch ungedeuteten Strophe 25, die mir fast als die wichtigste der ganzen Ballade erscheint:

Herbstgesträuche standen rot in Flammen,
Eine wilde Taube gurrte fern.
Sieben Pferde fanden sich zusammen,
Nur ein Sattel hatte keinen Herrn.

 

Ästhetisch gewertet, handelt es sich um eine äußerst effektvolle Bilanz. Mit einem einzigen, dem letzten Vers setzt der Autor den Kontrapunkt zum bisherigen 24-strophigen Psychogramm eines debütierenden Kriegers. In (scheinbar wertungsloser) Lakonie, die den besten zeitgenössischen US-Stories abgelauscht scheint, wird erhellt, dass sich Krieg keineswegs auf solipsistisch gefeierte Entwicklungserlebnisse reduzieren lässt.

Vom realistischen Standpunkt aus wird damit eine Quasi-Idylle abenteuerlicher Romantik schlagartig aufgelöst. Eine fast illegitime poetische Entrückung, die den Handelnden in eine Traumwelt zu entführen schien, wird dekonstruiert wie die Glückszahl sieben, die sich in diesem Fall als trügerisch erwies.

Die Schlusspointe weckt auch uns Leser, die wir buchstäblich wieder geerdet werden, zu erneuter Beschäftigung mit der Kriegsproblematik.

Schließlich der ethische Aspekt: „Nur ein Sattel hatte keinen Herrn“ mahnt wie das lateinische: „Et semper respice finem …“, man möge stets das Ende bedenken. Mit diesem zugespitzten Memento mori allein wird aus dem „Patrouillenritt“ zwar noch nicht gleich ein pazifistisches Gedicht. Aber es eröffnet ein dialektisches Spiel mit dem langen Vortext, in dem lediglich eine Seite der Kriegsmedaille beleuchtet war. Nun wird auch die andere Seite gezeigt, schockhaft, phrasenlos und damit viel eindringlicher als es die meisten  der anfangs erwähnten Reiterlieder tun, wenn sie die Tragik des Tötens und Sterbens als selbstverständlich banalisieren.

[1] Vgl. Günter Scholdt, Bergengruen heute, in: Bergengrueniana I, Berlin 2012, S. 84-87

Dieser hier erstmals ungekürzt publizierte Essay ist ein Additum zu des Autors lehrreichem, interessantem, kontrovers diskutiertem Buch „Die große Autorenschlacht. Weimars Literaten streiten über den Ersten Weltkrieg“, Berlin 2015