Meyer Wolf Weisgal: Der Mann, der Reinhardt, Weill und Werfel nach New York holte (2)

Wie die meisten Juden wurde ich in Kikl geboren.

Meyer Wolf Weisgal

 

Von Thomas Ziegner

Rückblende: Das Schtetl Kikl (Kikol)

Als Sehnsuchtsort, fast unwirklich lässt Weisgal das Schtetl, in dem er 1894 geboren wurde und seine Kindheit erlebte, zu Beginn seiner Autobiographie erscheinen. Sie hebt an, quasi-musikalisch, mit dem kurzen, dennoch inhaltsreichen Motiv:

„Wie die meisten Juden wurde ich in Kikl geboren“. Absatz.

Ungefähr dreihundert Menschen bewohnten das Schetl am Ende des 19. Jahrhunderts; ein kleines Dorf also, ein Weiler. Die Straßen waren unbefestigt, schlammig im Winter, staubig im Sommer. Es gab einen Friedhof, eine Synagoge und ein Gästehaus für Durchreisende, wenn diese nicht, wie meist, bei den Weisgals Platz fanden. Die Dame des Hauses, Lodzia mit Vornamen,  streckte notfalls das Essen. Die Familie genoss es, wenn interessante Gäste etwas zu erzählen hatten. Viel Geld besaß sie nicht. Aber der älteste Sohn, Abba, studierte Musik in Breslau (heute Wroclaw), ein anderer Ingenieurwesen in Plotsk, ein dritter besuchte die Yeshivah (Tora- und Talmudhochschule) des illustren Rabbi Reines von Lida.

„Wann immer ich den kleinen Ort erwähne, in dem ich zur Welt kam, richten sich mild erstaunte Blicke auf mich: ‚Gibt es den wirklich?‘ , und ich muss antworten: ‚Ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher‘. Die Erinnerung sagt mir, dass da tatsächlich einmal ein Kikl war; es war einmal (…). Mehr als eine Stadt jedoch, oder ein Dorf, oder eben ein Weiler, war Kikl ein Geistes-oder Gemütszustand. (…) Es war ein Ort, an dem Juden ihre Psalmen wieder und wieder rezitierten und Gott für die reiche Gabe ihres Lebens priesen, die ihre Seelen erfüllte, während ihre Ziegen zustimmend nickten.“

Durchreisende Sänger waren im Haus des Kantors besonders willkommen. Vater Weisgal besaß zwar die Approbation zum Rabbi, erhalten vom berühmten Yeshuele Kutner, aber seine Leidenschaft galt von Kindheit an der Musik. Die Reisenden brachten neue Melodien von Ort zu Ort. Viele machten in Kikl Station auf dem Weg nach Deutschland, um dort eine solide musikalische Ausbildung zu erhalten. Chazan Salomon Weisgal genoss ihre Musik.  Weltliche Klänge mied er weitgehend. Erst als die Weisgals schon in den USA, in der Bronx lebten, hörte Meyer Wolf ihn etwas singen, das an eine Arie aus Halevis  ‚La Juive‘ erinnerte, angereichert mit Trillern und Verzierungen. Gefragt, ob dies etwas neu Komponiertes sei, antwortete der Kantor: „Erzähle es niemandem weiter, ich habe das in einer Partitur gelesen.‘

Erst im hohen Alter, in den USA, geht Salomon Weisgal zum ersten Mal in die Oper; der Sohn überwindet den Widerstand des Kantors gegen weltliche Musik und nimmt ihn mit, Caruso anzuhören, der in Bizets „Die Perlenfischer“ auftritt. Bei der Arie des Nadir im wiegenden Sicilianostil rinnen dem Kantor Tränen übers Gesicht. Als sie hinausgehen, fragt der Sohn:

So Vater, was denkst du nun über diesen Goy? Er antwortete: ‚Alle chazonim megen a kapore zayn far im‘. Nur blass kann das übersetzt werden mit ‚Nun, da ich ihn gehört habe, können sich alle chazonim der Welt lebendig begraben lassen.‘

Gipfelpunkt seiner Kindheitserinnerungen an Kikl: Meyer Wolf darf zu seinem älteren Bruder Abba in die größere Stadt Nyesheve reisen, wo Abba inzwischen eine Stelle als Chorleiter hat. Die Stadt hat gepflasterte Straßen, Meyer exzelliert als Gesangs-Solist und bringt zum Entzücken der Menschen neue Melodien mit zurück nach Kikl – höchst willkommen in einer Zeit ohne Radio oder Plattenspieler.

Bis zuletzt hat er die Neigung beibehalten, bei jeder möglichen Gelegenheit zu singen, „oft zur Irritation meiner Freunde, besonders der professionellen Sänger und Musiker unter ihnen – von denen ich einen ganzen Stall in meiner eigenen Familie habe“. (1)

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Ein kleiner Exkurs ist hier nötig:. Pierre van Paassen – Schriftsteller und evangelischer Theologe, einer der wenigen nichtjüdischen Ehrenbürger von Tel Aviv – schreibt: „Ich erfuhr, dass Weisgal aus Israel angereist war, um am Gottesdienst in der Synagoge zu Baltimore teilzunehmen, an der sein Bruder Abba Kantor war. Ich schaffte es hinein, trotz der dienstbeflissenen Torwächter.Da stand Meyer, eingehüllt in einen prachtvollen Tallith, und er sang die Gebete und Litaneien mit seiner unglaublich reichen Bariton-Stimme. Es war ein Weisgal, wie ich ihn nie zuvor gesehen oder gehört hatte. Er war, mit einem Wort, transfiguriert. Seine Gesten waren feierlich und doch nicht gezwungen, ohne die kleinste Andeutung von Affektation. Er schien jünger zu sein als vor vierzig Jahren. Er war wie erleuchtet von einer heiligen Freude. Er berührte die Herzen jener Juden und ließ sie sich fühlen, als stünden sie noch einmal am Berge Sinai.Da wusste ich, was der Autor des 122. Psalms meinte. Weisgal kommunizierte seine innere Fröhlichkeit zu einer großen Gemeinde von Juden und einem Goy hinten am Tor.“ (2)

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Wie die Weisgals wandern zu Anfang des 20.Jahrhunderts immer mehr osteuropäische Juden aus, vorzugsweise nach Amerika. Kurz vor Beginng des Ersten Weltkriegs hatte Kikl nur noch rund 200 Einwohner. Als Meyer es 1925 kurz besucht, wirkt es fast verlassen.

Der letzte, die Autobiographie beschließende Absatz, gilt wieder dem heimatlichen Schtetl:

„Armes Kikl. Wo ist es jetzt? Dahingegangen, nehme ich an, aber niemals, darauf vertraue ich, wird es vergessen werden. Wir Juden sind stark in Erinnerungsvermögen. Über zweitausend Jahre, in den Kikls von Babylon, Spanien, Ost- und Mitteleuropa, und in der Neuen Welt, haben wir uns an Jerusalem erinnert. Und nun in Jerusalem lasst uns nicht all die Kikls vergessen, die uns spirituell, intellektuell und religiös genährt haben, die uns Riesen des jüdischen und universalen Gedankens gegeben haben. Wenn die Erinnerungen an sie und ihre Taten weiter mit uns fortleben, dann werden unsere zwei Jahrtausende der Wanderung nicht vergebens gewesen sein. (3)

(1) So far, an autobiography, London 1971, p 1 fff

(2) Weisgal at Seventy, L0ndon 1966, p 83

(3) So far, p 388

Nachtrag: Die Vernichtung Kikls durch die deutschen Nazi-Besatzungstruppen (Sondereinsatzgruppen, SS-Einheiten) begann 1939. Die Einwohner wurden ins Warschauer Ghetto deportiert, Spuren jüdischen Lebens ausgelöscht, die Synagoge und der Friedhof zerstört.