Zweierlei Abschied vom bürgerlichen Trauerspiel / Über Ödön von Horváth

 

Von Gerhard Scheit

I

Arnolt Bronnens Vatermord und Bertolt Brechts Baal stehen im Zeichen eines merkwürdigen Materialismus: die Sexualität – genauer: die Sexualität der Söhne – ist die ,Basis‘, woran der ‚Überbau‘ von Tugend, Politik und Moral zuschanden geht. Er unterscheidet sich von Wedekinds Erdgeist-Materialismus der Jahrhundertwende zunächst darin, dass den Männern von den Frauen keine wirkliche Gefahr droht. Und somit wird das Verhältnis der Geschlechter einigermaßen ‚undramatisch‘ – sobald nur einmal die Vaterfigur beseitigt ist. Der junge Brecht und der junge Bronnen – die damals eng befreundet waren und eng zusammenarbeiteten – sahen sich offenbar vor ein Problem gestellt, das ungefähr lauten könnte: wie kann die Frau wieder gefahrvoll – fatal – werden.

Bronnen macht die Frau zu diesem Zweck zur femme nationale: in den Rheinischen Rebellen wird eine Frauengestalt zur Allegorie der deutsche Nation geformt – entsexualisiert in ihrem Verhalten gegenüber den Männern, doch mit einem heftigen sexualisierten Bedürfnis nach der Nation ausgestattet. Brecht schwächt oder relativiert die Männer auf andere Weise. Er war stets unempfänglich für nationale Gefühle und Gedanken – dafür aber entwickelte er in den zwanziger Jahren umso mehr Gespür für die abstrakte Macht des Geldes. Während Bronnen mittels der Sexualität bald nach dem Vatermord die Idee der Nation fetischisiert, macht Brecht seit der Dreigroschenoper Geld und Sexualität konvertibel und erweitert seinen Materialismus: Die Männer, die hier auftreten, sind sexuell Hörige – sie müssen Abgaben zahlen: sie müssen – ob als Freier oder Ehemänner gleichviel – zu den Frauen gehen und ihnen gegen sexuelle Dienste ihr Geld lassen. Das Interesse der Frauen an den Männern hingegen ist eindeutig über Geld vermittelt: „Geld macht sinnlich“ – singt nicht zufällig eine Frau. Ihre dramaturgische Funktion erschöpft sich darin, Lust in Kleingeld zu verwandeln – und zwar ausschließlich die Lust der Männer. Wenn aber nur das Geld die Frauen ,sinnlich‘ machen kann, dann ist bestritten, dass sie selbständige sexuelle Bedürfnisse haben –und dies ist eine alte feministische Weisheit der Brecht-Interpretation: „What seems clear in Brecht is his desire to invent only women who are not powerful enough to threaten men, particulary with their independent sexuality.“ (Sara Lennox)

Brechts Dramaturgie trifft sich hier mit den ‚Volksstücken‘ von Ödön von Horváth aus der Zeit vor 1933, die man mit einigem Recht auch Dreigroschendramen nennen könnte. (Der Produzent der Dreigroschenoper, Ernst Josef Aufricht, brachte auch Kasimir und Karoline heraus – er spürte gewiss die Verwandtschaft, die den beiden Autoren selbst und den Kritikern – in ihre Grabenkämpfe vertieft – verborgen blieb.) „Geld macht sinnlich“, der aufgekratzt-witzige Song – mit dem von Eisler einmontierten Tristan-Motiv – lautet, übersetzt in die traurig-groteske Jahrmarktdramatik Horváths: „Nehmen wir an, Sie lieben einen Mann. Und nehmen wir weiter an, dieser Mann wird nun arbeitslos. Dann läßt die Liebe nach, und zwar automatisch.“ Mit diesen Worten klärt der kleine Angestellte Schürzinger Karoline über ihr Verhältnis zu dem eben erst arbeitslos gewordenen Kasimir auf – und das Stück bestätigt dies im Prinzip, aber nur im Prinzip. Karoline trennt sich von Kasimir, wenn auch alles nicht so automatisch erfolgt wie es bei Brecht erfolgen würde. Die dramatische Eigenart von Horváth zeigt sich darin, wie er vom Automatismus des Vorgangs abweicht. „Für die Frauen der Volksstücke“, so der Horváth-Biograph Dieter Hildebrandt, „ist Liebe immer verbunden mit einem Geschäft, wenn sie nicht selbst zum Geschäft wird.“ Allerdings gibt stets mehrere Angebote und durchaus verschiedene Möglichkeiten, das Geschäft abzuwickeln. (Weniger deutlich ausgeprägt und stärker parodistisch eingefärbt, existiert dieser Spielraum sogar bei Brecht: Während Marianne in den Geschichten aus dem Wienerwald ihren Alfred wählt, vermag sich Polly in der Dreigroschenoper für Macheath zu entscheiden.) Vor allem aber: in dem Moment, da sie sich auf das scheinbar Nicht-Subjektive, auf das Objektive der bürgerlichen Gesellschaft, das Geld, berufen, können die Frauengestalten sogar, indem sie ihrer Ohnmacht vollständig inne werden, den Bruch mit der Welt des bürgerlichen Trauerspiels vollziehen: So wenn Marianne sich in den Geschichten aus dem Wienerwald plötzlich gegen ihren Vater wendet: „Denk nicht immer an dich!“; Elisabeth am Ende von Glaube Liebe Hoffnung „ihrem Alfons“ anvertraut: „Bild dir doch nicht ein, daß ich wegen dir ins Wasser bin, du mit deiner großen Zukunft! Ich bin doch nur ins Wasser, weil ich nichts mehr zum Fressen hab – wenn ich was zum Fressen gehabt hätt, meinst, ich hätt dich auch nur angespuckt?! Schau mich nicht so an!! (Sie wirft mit der Schnapsflasche nach seinen Augen, verfehlt aber ihr Ziel)“; Karoline nach ihrer Trennung von Kasimir sagt: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wäre man nie dabei gewesen – –.“

Zugleich erfahren solche Figuren an jener objektiven Grenze des Geldes, durch die sie „nie dabei sein“ können, eine Grenze an sich selbst von anderer Objektivität – wie einen kategorischen Imperativ, von dem man sowenig wie vom Kantischen weiß, woher er kommt. „Aber ich müßte so tief unter mich hinunter, damit ich höher hinauf kann.“ (Karoline in Kasimir und Karoline.) Ihm auszuweichen, bleibt nur, in der Mitte zu verharren – das grauenhafte Happy End: „Ich kann nicht mehr. Jetzt kann ich nicht mehr“ sagt Marianne und lässt sich von ihrem Oskar abführen. Und wenn Schürzinger zu Karoline begütigend sagt: „Du brauchst einen Menschen, Karoline  – –“, antwortet sie: „Es ist immer der gleich Dreck.“  

Beantwortet werden kann nur die Frage, welches Subjekt-Objekt-Verhältnis in der Sprache es ermöglicht, den Bruch wenigstens zu artikulieren; was also im Ästhetischen des Dramas diese Bruchform des bürgerlichen Trauerspiels entstehen lässt, in dem einstmals die Töchter sich doch fast immer so sanft dem Willen ihrer Väter gebeugt hatten (wie insbesondere Peter Szondi in seinen Vorlesungen zum bürgerlichen Trauerspiel herausgearbeitet hat). Der Unterschied zu Brecht ist, dass die Figuren die Sprache nicht beherrschen. Aber anders als etwa bei den Personen, die Elfriede Jelinek sprechen lässt, werden sie auch nicht von der Sprache beherrscht. Und doch zeigen, wie Peter Handke einmal schrieb ihre „irren Sätze … die Sprünge und Widersprüche des Bewußtseins.“ Es sind aber keine bloßen Fehlleistungen, über die der Zuschauer sich wie ein allwissender Analytiker erheben kann, sondern die Figuren selbst reflektieren auf ihre eigenen Fehlleistungen. Sie gewinnen eine erstaunliche Klarheit im Bewusstsein ihrer Ohnmacht, ohne dass die Ohnmacht durch Sprachbeherrschung als schon praktisch überwundene erscheint wie bei Brecht.  

So bleibt ein Zwischenraum in den Figuren, in und zwischen ihnen entsteht eine Konstellation, die das Publikum im Ungewissen darüber lässt, ob sie nicht tatsächlich über ihre ständigen Fehlleistungen auch reflektieren, als wüssten sie etwas von Freudscher Analyse, zumindest stutzig werden, ihrer Ohnmacht gewahr werden und an sich selbst erfahren, dass sie sich über ihre Lebenslügen und auch die Brutalität ihrer Sprache beständig hinwegtäuschen. Wenn Karoline zu Schürzinger meint: „Ich denke ja garnichts, ich sage es ja nur“ – dann denkt sie im selben Moment darüber nach, was sie gesagt hat, ohne allerdings eben davon etwas nach außen dringen zu lassen. Was bei Ibsen und Tschechow noch offen ausgesprochen werden konnte, bleibt hier im Inneren der Figuren verschlossen. Der Inbegriff davon ist die berühmte „Stille“ in den Regieanweisungen, durch die der Dialog unterbrochen wird.

Auf diese Weise können sich die Zuschauenden über die Figuren nicht erhaben fühlen. Sie müssen erkennen, dass sie ihnen nichts voraushaben, außer dass sie im Zuschauerraum sitzen und schweigen dürfen. Für einen Regisseur wie Frank Castorf ist das natürlich ein unhaltbarer Zustand: So sagt in seiner Inszenierung von Kasimir und Karoline eine Schauspielerin die Regiebemerkung auf: „Stille. Lange Stille.“ Und Kasimir antwortet brachial: „Jetzt reicht’s mit der Stille“.

 

Kleiner biographischer Exkurs

Die geplante Uraufführung von Glaube Liebe Hoffnung durch Heinz Hilpert am Deutschen Theater Berlin konnte 1933 nicht mehr stattfinden. Ödön von Horváth wurde von den Nationalsozialisten mit fast eben solcher Intensität gehasst wie Bertolt Brecht – was nicht zuletzt auch damit zusammenhängen dürfte, dass beide das Wesen der Liebe als Geschäft darstellen. Horváth selbst versuchte sich zunächst anzupassen, um weiterhin in Deutschland als Dramatiker oder als Drehbuchautor wirken zu können. Er tritt der Reichsschrifttumskammer bei; er schreibt folgenden Brief, der von Horváths Verlag dem Reichsdramaturgen Rainer Schlösser übermittelt wird: „Ich habe bei Ausbruch der deutschen nationalen Revolution und während der folgenden Zeit bis Mitte April 1934 im Ausland gelebt und gearbeitet. Ich habe während dieser ganzen Zeit es kategorisch abgelehnt, irgend etwas in Wort und Schrift oder Tat gegen Deutschland zu unternehmen. Ich habe keinerlei Proteste unterzeichnet und bin deshalb auch von der gesamten marxistischen Presse Österreichs in wüstester Weise angepöbelt und verleumdet worden. … Und nun … ereignet sich der Fall, daß ein deutsches Theater ein Stück von mir spielen will, und da muß ich hören, daß man kein Stück von mir in Deutschland spielen kann, also in dem Lande, für das ich im Ausland immer eingetreten bin. Ich erwarte es niemals, daß man mich irgendwo mit offenen Armen empfängt, aber es wäre für mich mehr als ein sehr schmerzliches Erlebnis, wenn man es mir untersagen würde, am Wiederaufbau Deutschlands mitzuarbeiten …“

Tatsächlich verhinderte Horváth den Abdruck eines seiner Texte in der Sammlung von Klaus Mann und verweigerte die Solidarität mit den Vertriebenen und Verfolgten im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen beim 11. Kongress des Internationalen P.E.N.-Clubs in Ragusa. Oskar Maria Graf griff ihn daraufhin in einem offenen Brief in der Wiener Arbeiter-Zeitung vom 2. Juni 1933 scharf an: „Du willst Dir nach keiner Seite irgendein Geschäftchen verderben. Mit solchen Leuten, deren Gesinnung nicht weiter reicht als ihr Maul, und die bei einem so geringfügigen Ansinnen, das an ihren kollegialen Anstand gestellt wird (von Solidaritätsbewußtsein ganz zu schweigen!) die Flucht ergreifen, habe ich nichts zu schaffen!“ Ähnlich attackierte Graf zu dieser Zeit allerdings auch Stefan Zweig.

Es hat Horváth natürlich nichts genützt. Rainer Schlösser war ein alter fanatischer Horváth-Gegner aus der Weimarer Republik (er hat seinerzeit im Völkischen Beobachter schärfstens gegen die Verleihung des Kleistpreises an Horváth protestiert). Der Dramatiker schreibt nun in Berlin hauptsächlich Drehbücher für simple Unterhaltungsfilme – etwa für Fiakerlied (mit Gusti Huber und Paul Hörbiger), bei dem der Name des jüdischen Schöpfers des Liedes, Gustav Pick, natürlich nicht genannt wird – auch der Name Horváths wird nicht genannt, er verwendet ein Pseudonym –, oder für Die Pompadour – gemeinsam mit Veit Harlan, dem späteren Regisseur von Jud Süß. Erst ab Mitte 1935 dürfte sich Horváth endgültig als Exilant begriffen haben mit Hauptwohnsitz in Wien und Henndorf bei Salzburg – noch bevor manche von ihm geschriebenen Filme im Dritten Reich produziert und herausgebracht wurden. 1937 wird er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und beginnt bei einem Exilverlag zu publizieren. Ein langer Weg ins Exil also – länger, als das Exil für Horváth dauern sollte: Er wird im Juni 1938 in Paris von einem herabstürzenden Ast erschlagen.

 

II

Wenn er in seinem Brief versichert, am Wiederaufbau Deutschlands teilnehmen zu wollen, so scheint Horváth nun in seinen neuen Stücken den Willen bekunden zu wollen, die alte Komödiendramaturgie wiederaufzubauen. Zu diesem Zweck wird jener Zwischenraum in den Figuren liquidiert: Sie werden mit dem, was sie sagen, förmlich identisch. Dieser Rückzug aus der avancierten Ästhetik der früheren Stücke ist so gravierend, dass er im Folgenden an bestimmten Wendungen von Horváths dramatischer Produktion nach 1933 nachgezeichnet werden soll.

In Himmelwärts schließt die junge Sängerin einen Pakt mit dem Teufel, um berühmt zu werden, überredet ihn aber dann irgendwie, den Vertrag wieder zu lösen – verliert in der Folge ihre sensationelle Stimme und den Erfolg, gewinnt aber häusliches Glück mit dem ebenfalls erfolglosen Hilfsregisseur. Das unerträgliche Happy End der Geschichten aus dem Wienerwald wird ebenso dementiert wie die abscheuliche Vaterfigur des Zauberkönigs. Der Vater der jungen Sängerin kommt zwar in die Hölle, weil er Frau und Kind gequält hat, doch der liebe Gott macht’s möglich, dass die geschlagene Ehefrau im Himmel ihren Fluch zurücknimmt – „Und wie mich der liebe Gott so gefragt hat, da tat es mir auf einmal so weh um meinen Mann und ich hab es bereut, daß ich ihm die Holl gegönnt hab – und plötzlich hab ich bemerkt, wieviel Flecken noch an mir sind und was das für eine große Gnade ist, daß überhaupt einer von uns hier sein darf Und da hab ich den lieben Gott gebeten, daß er meinen Mann erlöst – und jetzt ist endlich Frieden in mir.“

Darin, dass die Frau erst als Tote – im Himmel – ihrem Mann verzeiht, könnte freilich auch eine böse Pointe gesehen werden. In der „Posse“ Hin und her lässt sich über die Pointen kaum mehr spekulieren; mit Himmel und Hölle ist hier die mögliche ironische Hintergründigkeit verschwunden. Sie spielt nicht zwischen Himmel und Hölle, sondern an der Grenze zweier Länder; die Tochter des Grenzbeamten liebt den Grenzbeamten des angrenzenden Landes; der Vater ist gegen die Liebe, gibt aber am Ende den Widerstand auf. Als Vermittler des Liebespaares fungiert niemand anderes als ein ‚Exilant‘. Er ist von dem einen Land ausgewiesen und darf ins andere nicht einreisen. Darum ist er gezwungen, einige Male zwischen den Grenzen im Niemandsland hin und her zu laufen, überbringt nebenher Liebesbotschaften, wird bei einem geheimen Treffen der beiden Staatsoberhäupter irrtümlich mit einem solchen verwechselt und gelangt über diese Verwechslung schließlich zu einer Einreiseerlaubnis, die noch durch die Vermählung mit der an der Grenze ansässigen Wirtin gekrönt wird. So kann am Ende eine Doppelhochzeit gefeiert werden. Die beiden Länder sind nun keineswegs wie Himmel und Hölle einander gegenübergestellt. Horváth ist vielmehr bemüht, Exil als allgemein menschliches und allgemein staatliches Problem sinnfällig zu machen.

In der Komödie Figaro läßt sich scheiden verarbeitet Horváth – deutlicher noch als in den beiden anderen Komödien – die politischen und persönlichen Erfahrungen und seine Hoffnungen auf einen Ausgleich der politischen Gegensätze. Figaro lässt sich nur für kurze Zeit scheiden – am Ende kommt es zur Versöhnung der Ehegatten und zur Rückkehr ins Land, aus dem man geflohen ist. Figaro erklärt Susanne: „Was die treiben, das wird bei jeder Revolution getrieben und ist nur logisch, denn vom Standpunkt der Revolution aus haben die Leut auch recht … Es gibt zweierlei Recht. So oder so. Dir und mir, zum Beispiel hätt keiner ein Haar gekrümmt, wir hätten ruhig zuhaus bleiben können, wie deine ganze Verwandtschaft … uns zwei hätt niemand erschlagen, höchstens war ich vielleicht sogar noch Schloßverwalter geworden –.“

Figaro geht allein zurück – und Susanna folgt ihm schließlich. In dem Dialog, den sie am Ende fuhren, revoziert Horváth deutlich vernehmbar den Fluch der Elisabeth aus Glaube Liebe Hoffnung: „Nur weil ich draußen nichts mehr zu Essen hatte, bin ich zu dir zurück“, sagt Susanne. Doch Figaro behält das letzte Wort: „Das glaub ich dir nicht … Warum belügst du dich selbst? Tuts dir wohl? Mir machts nichts aus.“ Und doch: die Stille, die nun folgt, bleibt zweideutig: Macht sie im Sinn der früheren Stücke Horváths eine Lebenslüge hörbar, die als solche nicht mehr ausgesprochen werden kann wie noch zu Ibsens Zeiten – stellt also Figaros Aussage in Frage, die damit nicht das letzte Wort ist? Oder ist sie ein Augenzwinkern des Dramatikers, Gelegenheit fürs Publikum, über Allgemein-Menschliches und Ewig-Weibliches zu schmunzeln?

Figaro wird dann allerdings vom Handlungsverlauf recht gegenüber Susanna gegeben – in dieser Frage ebenso wie in der Politik: das Land, aus dem sie vertrieben worden sind, mäßigt sich. Die Politik ist das Übel: Figaro erlaubt den Kindern am Ende, die Fensterscheiben einzuschlagen – unter der Bedingung, dass sie nicht mehr politisieren. Horváths weitere Komödien, Pompej und Das Dorf ohne Männer, folgen gleichfalls dieser Weisung: Sie verzichten auf den politischen Bezug zur Gegenwart – und ununterbrochen klirren hier die Scheiben einer pueril gewordenen Komödiendramaturgie. Doch gerade der Rückzug von der politischen Gegenwart, der Verzicht auf den aktuellen Bezug, lässt erkennen, wie problematisch und zerbrechlich die von Horváth nach 1933 restaurierte Komödienstruktur ist. Die weiblichen Figuren sind weitgehend entindividualisiert: Im Dorf ohne Männer tragen sie keine Namen, sondern werden die „Rote“, die „Braune“, die „Blonde“ genannt. Die Versöhnung, die in beiden Komödien mittels Versatzstücken aus dem Theaterfundus hergestellt wird – im Dorf ohne Männer ist es ein guter menschlicher König, in Pompej die christliche Religion –, kann über die befremdende Abstraktheit nicht hinwegtäuschen.

Schon in Horváths Volksstücken aus der Zeit der Republik sind sich Mann und Frau im Grunde als Fremde gegenübergetreten; die Fremdheit war jedoch untrennbar von dem, was sie miteinander verband: Geld. Nun aber ist es eine metaphysische Fremdheit – und sie findet in den nicht komödienhaften Stücken ihre eigentliche Form: Trauerspiele im Zeichen einer leer gewordenen Transzendenz. Der Tod, der hier an der Stelle der Komödien-Hochzeit steht, bietet keine Erlösung aus der Entfremdung – er beendet sie nur. Zu Don Juan kommt aus dem Krieg sagt Horváth in einem Vorwort, es sei die „metaphysische Bindung dieser Sexualität [des Don Juan; G.S.], deren Wirkung sich die Frauen nicht entziehen können. Der Don Juan sucht immer die Vollkommenheit, also etwas, was es auf Erden nicht gibt. Und die Frauen wollen es ihm, und auch sich selbst, immer wieder beweisen, daß er alles, was er sucht, auf Erden finden kann. Das Unglück der Frauen ist, daß sie einen irdischen Horizont haben – erst, da sie es schaudernd ahnen, daß er nicht das Leben sucht sondern sich nach dem Tode sehnt, schrecken sie vor ihm zurück.“ So wandelt Don Juan als einziger Mann dieses Stücks unter 35 Frauen, die alle keinen Namen tragen; auch sie entindividualisiert, sind sie doch einem bestimmten ,sozialen‘ Typus zugeordnet (nicht nur einer bestimmten Haarfarbe). Einige dieser Frauen machen aus ihrem Hass auf die Männer kein Hehl – und dennoch erliegen sie der Verführung Don Juans. Selbst eine als Kommunistin gezeichnete Frau – zu der Don Juan lächelnd sagt, als wäre er Ödön von Horváth: „Sie halten mich anscheinend für eine aufbauende Kraft?“ – gerade sie, die verkündet „Die Beziehung zwischen den Geschlechtern ist für uns überhaupt kein Problem mehr, ist ja nur eine Funktion wie Essen und Trinken!“ und damit wohl den unterstellten irdischen Horizont der Frauen auf den Punkt bringen soll, sie weint, als Don Juan sie verschmäht.

Don Juan ist, seit er aus dem Krieg kam, auf der Suche nach der geliebten Braut, die er noch vor dem Krieg verlassen hatte. In ihr verkörpert sich ihm das Ideal der Vollkommenheit, dem keine der Frauen zu entsprechen vermag. So folgt – auf beiden Seiten – der Anziehung stets die Enttäuschung, ohne dass diese Enttäuschung irgendetwas an der Anziehung ändern würde. Am Ende, als der Tod der Braut Gewissheit ist, bleibt Don Juan an ihrem Grab sitzen, um zu erfrieren. Der Tod ist die einzige Möglichkeit, den circulus vitiosus zu durchbrechen – der Tod Don Juans wohlgemerkt, nicht der Braut; denn das Ideal besteht ja von Anfang an darin, dass es die Braut überlebt.

Heike Klapdor-Kops spricht in ihrer Interpretation mehrmals vom Zirkelschluss als der bestimmenden Struktur des Stücks. Der Mittelpunkt dieses Zirkels liegt offenbar in der Vergangenheit – und er ist weniger in der Zeit vor dem Krieg, als in der Zeit der Kindheit – und zwar der des Mannes – zu suchen. „Wo willst Du den hin“, wird Don Juan von einem „losen Mädchen“ – ganz am Beginn des Stücks, unmittelbar nach Kriegsende – gefragt. „Nachhaus“, antwortet er. „Zur Mutter?“ – Don Juan horcht auf: „Das war schön.“ Jürgen Schröder hat in der Todessehnsucht Don Juans die Sehnsucht wahrgenommen, zur Mutter zurückzukehren. „Das Eigenartige der Horváthschen Fassung ist es, daß Don Juan in einer männer- und vaterlosen Fassung lebt und dadurch alles Aggressive und Revoltierende des ‚Burladors‘ verliert. Er wie die anderen Schlüsselfiguren Horváths wollen nicht den – durch den Weltkrieg ohnehin entthronten – Vater bei der Mutter ersetzen, sondern als Kind zu ihr zurücksterben.“

 

Zitierte Sekundärliteratur

Sara Lennox: Woman in Brecht’s Works. In: new german critique 14/1978

Dieter Hildebrandt: Liebe, Tod und Kapital. In Materialien zu Ödön von Horváth. Hrsg. v. Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1970.

Jutta Wardetzky: Theaterpolitik im faschistischen Deutschland. Berlin/DDR 1983

Horváth-Chronik. Hrsg. v. Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1988.

Heike Klapdor-Kops: Heldinnen. Die Gestaltung der Frauen im Drama deutscher Exilautoren. Weinheim; Basel 1985.

Monika Meister: Horváths Theaterstücke als szenische Kunst der Gegenwart. In: Ich denke ja garnichts, ich sage es ja nur.“ Ödön von Horváth. Erotik, Ökonomie und Politik. Hrsg. v. Nicole Streitler-Kastbegrer u. Martin Vejvar. Salzburg 2018.

Gerhard Scheit: Dramaturgie der Geschlechter. Frankfurt am Main 1995.

Gerhard Scheit: Männerphantasien im Exil: Bertolt Brecht und Ödön von Horváth. In: Frauen im Exil. Hrsg. v. Siglinde Bolbecher. Wien 2007. (Zwischenwelt 9)

Jürgen Schröder: Das Spätwerk Ödön von Horváths. In: Ödön von Horváth. Hrsg. v. Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1981.

Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Gert Mattenklott. Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 1. Frankfurt am Main 1977.

 

Gerhard Scheit schrieb für Brouillon zuletzt über Band 10 der Albert Drach Werkausgabe (Gedichte):Die andere Seite des Großen Protokolls