Ein leidender Glückssucher: Vom kleinen Mann und großen Autor Hans Fallada

Von Günter Scholdt

 

Vor 125 Jahren, am 21. Juli 1893, wurde in Greifswald Rudolf Wilhelm Ditzen geboren, der unter dem Pseudonym Hans Fallada zu einem bedeutenden Erzähler mit Millionenauflage reifen sollte. Der Erfolg war verdient. Denn obwohl dieser Autor stets als umstritten galt, zählt eine Handvoll seiner Werke zu den modernen Klassikern deutscher Sprache. Wer etwa auf plastisch-modellhafte Weise einen Einstieg in die Mentalitätsgeschichte der Weimarer Republik erhalten oder wissen will, wie Durchschnittsmenschen in der Krise reagieren, greife zu Romanen wie „Bauern, Bonzen und Bomben“ (1931) oder „Kleiner Mann – was nun?“ (1932). Des weiteren lese er die im Dritten Reich verlegten, gleichfalls Weimar betreffenden Zeitromane „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt“ (1934), „Wolf unter Wölfen“ (1937) oder „Der eiserne Gustav“ (1938). Publikationen wie diese widerlegen, nebenbei gesagt, gängige Germanistik-Klischees, wonach der Exodus der Exilanten praktisch das Ende einer nennenswerten Literatur in Deutschland bewirkt habe. Selbst der Epochenstil „Neue Sachlichkeit“ fand bis in die vierziger Jahre hinein noch seine Fortsetzung und wurde keineswegs – wie häufig zu lesen – durch Blut-und-Boden-Normen fast gänzlich ausgemerzt.

Sentimentale Variante der Neuen Sachlichkeit

Was diesen Schreibstil betrifft, waren Falladas Texte allerdings nicht von einer ästhetischen „Verhaltenslehre der Kälte“ (Helmut Lethen) geprägt, wie dies zumindest zeitweilig für Brecht, Gottfried Benn, Johannes R. Becher oder Ernst Jünger galt. Vielmehr verkörperte er bei aller fast dokumentarischen Fakten- oder Milieutreue eine emotionsnahe, zuweilen sogar sentimentale Variante der Neuen Sachlichkeit. Das galt für Joseph Roth oder Erich Kästner übrigens ähnlich, deren schnoddrige Gefühlsfassaden die dahinter fließenden Tränen nur notdürftig verbargen.

Fallada jedenfalls litt mit seinen traurigen oder gehetzten Romanhelden an der Zeit, in der sie lebten, ihren existentiellen wie beruflichen Miseren oder charakterlichen Unzulänglichkeiten. Und er kannte sie genau: die von Arbeitslosigkeit bedrohten Angestellten, Arbeiter und Bauern, in ihrer gelegentlichen Versuchung, das Gesetz zu brechen, die teils schwachen, teils korruptionsanfälligen Gutsverwalter oder Kommunalpolitiker. Auch den Liebenden und sehnsüchtig Hoffenden blieb sein Schreiben stets ver­bunden in ihrer Suche nach dem kleinen Glück, das in den zwanziger bis vierzi­ger Jahren in Deutschland so schwer zu erhaschen war.

Als minutiöser Zeitzeuge registrierte er Sozialkonflikte wie die Unruhen der Landvolkbewegungen oder die Folgen der durch die Weltwirtschaftskrise aus­gelösten großen Depression. Er wußte von den seelischen Verheerungen einer 1918 durch Niederlage und Umsturz aus der Bahn geworfenen Offiziersgenera­tion. Die Gefühlslagen von Gefängnis­insassen waren ihm vertraut. Auch das Märtyrerschicksal eines gegen das Tö­ten im Zweiten Weltkrieg agitierenden kleinbürgerlichen Ehepaars ging ihm na­he. Er schilderte es im 1947 postum er­schienenen Roman „Jeder stirbt für sich allein”, der erstmals 1962 fürs Fernsehen verfilmt wurde und dann erneut 1976 mit Hildegard Knef und Carl Raddatz in den Hauptrollen in die Kinos kam.

Hans Fallada, Selbstdreher
(c) Aufbau Verlag

Doch warum nun gilt Fallada als „umstritten”? Er war dies weniger aus der Sicht seiner Leser, die ihm (vor al­lem durch Taschenbuchkäufe) die Treue hielten. Denn sie sahen sich durch die Grundhaltung seiner Autorschaft nie denunziert, sondern verstanden und zuweilen getröstet. Abfälliges – neben mancher Anerkennung – kam eher von Kollegen oder Kritikern, die ihn ästhe­tisch wie politisch nach ihren eigenen Maßstäben beurteilten. Einige stießen sich an seiner Kunst des (scheinbar) Leichten, die in Deutschland stets massi­ven Vorurteilen ausgesetzt war. Traditio­nalisten wie etwa Ernst Wiechert galt er als Exponent einer an bloßer stofflicher Aktualität orientierten transzendenzlo­sen Schriftstellerei, der gegenüber er sich als sendungsbewußter Dichter verstand.

Nationalisten wie Linksaktivisten – und in ihrem Gefolge BRD-Germani­sten – vermißten eine klare politische Stellungnahme im latenten Bürgerkrieg der Zwischenkriegszeit. Objektive Di­stanz galt ihnen als Schwäche. Rechte wie Will Vesper oder Franz Schauwek­ker ließen von seinen Figuren fast nur den von Fallada gezeichneten starken Frauentypus gehen, den sie allerdings gerne im eigenen Lager plaziert gese­hen hätten. Aus dem Exil schließlich kamen drastische Vorwürfe, als er, um weiterschreiben zu können, der Goeb­bels-Zensur durch kleinere Umarbeitun­gen oder herrschaftskonforme Vorworte Konzessionen machte.

Hermann Hesse verteidigte Fallada

All diese Kritiker verlangten von ihm, was er letztlich nicht liefern woll­te oder konnte. Das hat kaum einer so gespürt wie der Rezensent Hermann Hesse. Verteidigte er doch den Autor am Beispiel von „Kleiner Mann – was nun?” gegenüber verbreiteten Vorwür­fen, Autor und Zentralfigur hätten aus ihrer Gesellschaftsdiagnose nicht die notwendigen (revolutionären) Konse­quenzen gezogen. Sie seien eben auch nur Bürgerliche, ,,feig, gekauft, alles ins Humane abbiegend”.

Kleiner Mann- was nun?
Originafassung erstmals 2016 im Aufbau-Verlag

Die Verächter dieser „rührenden und meisterhaften Geschichte”, wand­te Hesse ein, hätten damit genau so weit recht, wie „Partei-Urteile über Dichtun­gen recht haben können”. Es wäre aber klüger, ,,dem Dichter dafür zu danken, daß er so sachlich, so wahrhaftig und treu berichtet hat, und ihn zum minde­sten nicht dafür zu tadeln, daß er hinter dem Angestellten auch noch einen Men­schen, hinter den ‘Zuständen’ auch noch ein Leben, hinter der Not und Schwei­nerei auch noch eine Ahnung von Men­schentum gelten läßt.” Kurz: Fallada war kein Protagonist, kein volkserziehender Prinzipienkämpfer, sondern vor allem ein leidender Glückssucher mit einer einfühlenden Beobachtungsgabe.

Bereits seine Lebensgeschichte stand dem entgegen. Gleicht sie doch vielfach einem psychedelischen Horrortrip: Sohn eines renommierten, zuletzt am Reichs­gericht in Leipzig tätigen Richters, des­sen Leistungsansprüchen er niemals ge­nügte. Heftige (spät-)pubertäre Kon­flikte, darunter ein als Duell getarnter versuchter Doppelselbstmord, der sei­nen Freund das Leben kostete. Diverse Aufenthalte in psychiatrischen Klini­ken, Erziehungsanstalten oder Gefäng­nissen. Seine lebenslange Alkohol- und Morphinsucht, die er im epischen, po­stum erschienenen Suchtprotokoll „Der Trinker” (1950) schonungslos darstell­te. 1914 bei Kriegsausbruch eine durch ,, Untauglichkeit” nicht realisierte Frei­willigenmeldung; später sporadische Mitgliedschaften bei den Sozialdemo­kraten oder Guttemplern. Unterschla­gungen, um Drogen zu kaufen, Zucht­haus und prekäre Beschäftigungsverhält­nisse, vom Landwirtschaftseleven bis zum Provinzreporter oder Anzeigenein­treiber, aus denen ihn schließlich Ro­wohlts Verlagsanstellung erlöste. Ehen und Frauenbekanntschaften, die ihn nur zeitweilig „retteten”, die in schmerzli­chen, teils gewaltsamen Trennungen endeten. 1933 eine Denunziation mit kurzer Gestapo- Haft.

Als politisch unsicherer Kantonist stand er ohnehin unter ständiger Dro­hung, quasi unter Aufsicht oder Be­währung zu schreiben. Nach Ende des Dritten Reichs nahm ihn der spätere DDR-Kultusminister Johannes R. Be­cher unter seine Fittiche. Er wies ver­gleichbare Drogenerfahrungen und „Jugendsünden” auf und verhinderte Falladas erneuten Selbstmordversuch. Dessen früher Tod am 5. Februar 1947 im Hilfskrankenhaus Berlin-Nieder­schönhausen, wo der Suchtkranke sei­ne letzten Tage verbrachte, ersparte ihm zumindest fast zwangsläufige zukünftige Verbiegungen eines Lebens in einer wei­teren Diktatur.

Falladas Charakter und diese Le­bensumstände boten für couragierten Widerstand schlechte Voraussetzungen. Er war kein Bekenner, sondern ein Seis­mograph, der gesellschafcliche Beben angstvoll dokumentierte. Immerhin ent­hält sein Werk neben bewußter Idyllik als literarischen Gegenentwurf durch­gehend einen kreatürlichen Protest ge­gen politisch-soziale Deformation. Mag sein, daß er sich unter Druck mehrfach als schwacher Mensch erwies. Aber dies hinderte ihn nicht daran, ein starker Schriftsteller zu sein und ein glaubhaf­ter Anwalt jener Leute, die man her­ablassend als „klein” bezeichnet. Ehren wir das in ihm.

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Prof.Dr. Günter Scholdt ist emeritierter Literaturwissenschaftler. Er habilitierte sich mit der Arbeit “Autoren über Hitler”, einer qualitativen Inhaltsanalyse, die zum Standardwerk und unter anderem von Frank Schirrmacher in der FAZ enthusiastisch besprochen wurde. Auf Scholdts Streitschrift “Literarische Musterung. warum wir Kohlhaas, Don Qijote und andere Klassiker neu lesen müssen”, haben wir hingewiesen: Von Rechten lernen: Die “Literarische Musterung” von Günter Scholdt

Der Beitrag erschien zuerst in der Wochenzeitschrift Junge Freiheit